17. November 2015

Ich hab aus der gestrigen Session mit Kerstin Feirer eine sehr elegante Formulierung mitgebracht, die etwas bezeichnet, was mir für unsere aktuelle Arbeit recht wichtig erscheint. Sie lautet: "Das kleine Vergessen".

Es ist die Empfehlung, bei manchen Aufgaben von allem abzusehen, was man über eine Sache zu wissen meint. Es ist der Hinweis, daß versucht werden solle, sich mit einer Sache zu befassen und nicht mit den eigenen Annahmen über diese Sache. Sie verstehen die Raffinesse dieses Gedankens?

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Es ist einerseits eine Strategie gegen Killerphrasen und Totschlagargumente, es ist andererseits die Einladung, auf vorgegebene Ziele zu verzichten, damit über neue Perspektiven neue Lösungen möglich werden. Volkstümlich klingt eines der gängigen Probleme in solchen Zusammenhängen etwa so: "Wenn Du immer wieder das tust, was Du immer schon getan hast, dann wirst Du immer wieder das bekommen, was Du immer schon bekommen hast."

Ja, das müde Lächeln kenne ich. "Kann mir doch nicht passieren!" Gut. Wir sind jedenfalls bei der Themenstellung "Kunst. Wirtschaft, Wissenschaft" weniger gewiß, daß der Verzicht auf vorgefaßte Meinungen beim Anpacken neuer Aufgaben als selbstverständliche Qualität gilt und grundsätzlich gesucht wird.

Das kleine Vergessen mag aber auch als eine praktische Toleranz verstanden werden, die man Menschen aus anderen Metiers in gemeinsamen Vorhaben entgegenbringt. Allerhand Begriffsbestimmungen können zur Klippe in einer Kooperation werden. Jedes Milieu hat seinen Jargon und jede Berufsgruppe hat ihre bestimmten Anforderungen an Genauigkeit.

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Wenn also, wie Feirer es vorschlug, nicht nur multidisziplinär, sondern interdisziplinär gearbeitet werden soll, können berufsspezifische Anforderungen aus verschiedenen Metiers schnell kollidieren. Wie zulässig ist es denn, mit Begriffen salopp umzugehen? Darf man gesichertes Wissen ignorieren? Kann übergangen werden, was als außer Streit gestellt gilt?

Es läßt sich aber auch umgekehrt betrachten. Erlaube ich mir gelegentlich eine Freistellung von selbstverordneter Arbeitsdistziplin? Kann das was bringen oder ist es bloß Schlendrian? Das Multidisziplinäre bündelt verschiedene Disziplinen, alle Beteiligten können sich auf ihre Prinzipien und Standesregeln berufen.

Das Interdisziplinäre verlangt im Kern, solche Abgrenzungen aufzugeben, folglich auch den Anspruch auf Definitionshoheit zu streichen. Da kann es unter uns Menschen schnell eng werden. In solchem Sinn bedeutet das kleine Vergessen also auch den Verzicht auf "Herrschaftswissen", auf eine bevorzugte Position aufgrund besserer Informiertheit.

Ich kenne Leute, denen würde schon der Schweiß ausbrechen, wenn wir darüber bloß reden. Sind wir in der Kultur- und Wissensarbeit gerüstet, Hierarchie in solcher Weise auszuschlagen? Trauen wir uns selbst so viel Eigenverantwortung zu, daß wie Entscheidungen auch ohne Expertenurteil fällen? Dann würden wir ja selbst für die Konsequenzen haften und können uns beispielsweise nicht auf mangelnde Sachkenntnis ausreden. Sie merken schon, das sind brisante Fragen.

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Es gibt im Film "Die Räuber" (2015, Pol Cruchten & Frank Hoffmann, nach Motiven von Schiller) eine Szene, wo Tchéky Karyo als "Der Alte", Kopf einer Räuberbande, demonstriert, was Hierarchie und Unterordnung bedeuten. Während er die Kontroverse mit einem Bandenmitglied beendet, indem er den Mann dominiert, fordert er abschließend mehrmals sehr energisch: "Senk deinen Blick!"

Ich habe davor noch nie nachgedacht, wie wesentlich dieses Motiv ist. Genau das, den Blick zu senken, wird einem übrigens empfohlen, wenn man manchen Raubtieren oder Primaten nicht mehr ausweichen kann, überdies wenn man sich in der Situation einer Geisel wiederfindet.

Wie sehr sind wir also vorbereitet, einen interdisziplinären Arbeitsansatz in eine wenigstens mittelfristige Praxis zu führen und dabei hierarchische Strukturen zu vermeiden? Ich bin sehr neugierig, was uns da als nächster Schritt gelingt.

-- [KWW: Synergiekonferenz] [Das 2015er Kunstsymposion: Dokumentation] --

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