1. Mai 2019 Ich mag
diesen Tag, der mich daran erinnert, welche Dimension die historische Sozialdemokratie
hatte. Ich hab dabei freilich keine Kreisky-Romantik. In meinem Blick auf diese Geschichte
sind mit der Hinrichtung von Koloman Wallisch einige Uhren stehengeblieben.
Die Sozialdemokratie der Zweiten Republik kann ich nur am
jetzigen Status quo messen. Dazu fällt mir im Moment nichts ein. Außer vielleicht, daß
sie eben auch Teil jenes Narrativs ist, dessen Versinken sich im Comeback der
Stammeshäuptlinge äußert; jener Stammeshäuptlinge, die meinen, ihr vermutetes
Stammesgebiet sei die Welt. So zum "Brandmal" im Eintrag vom 16.4.2019 notiert. (Und nun, wie kaum
überraschend, haben sich die Hocherregten zum Thema Notre-Dame auch schon beruhigt.)
Diese tribalen Verhältnisse, geprägt von einer
vorherrschenden und anmaßenden Männerkultur, lassen zur Zeit offenbar die Pfosten
tanzen. Das wurde dieser Tage etwa an jenem Kerl deutlich, der sich erst einmal vollkommen
ungeniert der Welt mit einer sexualisierten Infamie mitgeteilt hat, indem er einer
Politikerin unseres Landes ausrichtete, sie sehe "aus wie eine läufige Hündin
die sich noch nie frisiert hat", Siehe dazu den Eintrag vom 28.4.2019!
Es war leicht herauszufinden, wer das ist, der sich auf
solche Art eines Massenmediums bedient. Er hatte seine Ansicht mit Klarnamen publiziert.
Kein besonders grobschlächtig wirkender Mensch mit womöglich ungeübtem Geist, sondern solider
Mittelstand. Der Gebietsleiter einer renommierten Versicherungsanstalt. Also muß er in
einem Mindestmaß smart sein. Er zeigt sich im Web mit Kleinkind und Hündchen.
Natürlich ist da ein bewährtes Strickmuster. Die
demonstrative Frauenverachtung ist sicher als politisches Statement intendiert, legt aber
offen, was in diesem Mann wirkt, der sich so vor anderen Männern produziert und damit
natürlich allen Frauen etwas ausrichtet, auch der Mutter seines Kindes.
Wahrscheinlich muß ich mir so eine Figur vorstellen, wenn wieder einmal jemand "Leistungsträger"
sagt. Diese Art der Kumpanei (um es nicht Nietensolidarität zu nennen) hat etwas
von Schlachtszenen in einem Ritterschauerdrama, wo ein Häuflein Versprengter und
Verunsicherter unter Druck gerät, zusammenrückt, unter der eigenen Rückständigkeit
einknickt.
Ich hatte mich gestern über ein WOCHE-Headline zum 1. Mai
amüsiert: "Vor dem morgigen 'Tag der Arbeit' ruft die WKO heute den 'Tag der
Arbeitgeber' aus, um auch deren Leistung entsprechend zu würdigen."
Was sind das für lachhafte Posen? Immerhin stecken wir
mitten in einem extrem interessanten Umbruch, da wir unsere Koexistenz mit Maschinen
dringend neu klären müssen, denn die Arbeitswelt hat sich schon weit fundamentaler zu
ändern begonnen, als zu Zeiten der Weberaufstände.
Und was schieben diese grinsenden Krawattenköpfe raus? So
eine Ansage. Zugleich wird die Stadt, in der ich wohne, seit Tagen von einem brisanten
Thema bestimmt: Krähen attackieren in der Innenstadt Störche. Nun sind die Krähen
geschützte Tiere und in der Stadt darf man nicht schießen. Was soll geschehen? Eben! Dazu
paßt doch auch das Thema einer jüngst vollzogenen Kunstveranstaltung in der Kleinregion:
"Farbenrausch". Wir bersten von Inhalten!
Ich versuche zu begreifen, was derzeit zwischen Gezänk.
Polemik und Betulichkeit in den öffentlichen Diskursen an Themen Platz hat. Meine eigenen
Lektionen habe ich mehrfach zur Annahme vorgelegt bekommen. Da heißt es etwa, daß meine
Sprache antiquiert sei, meine Pose zu anmaßend wie meine Texte zu lang geraten, auf
diesem Weg sei also nichts zu gewinnen.
Ich halte das derzeit für ungeklärt. Worauf ich
allerdings wetten möchte: In 50 Jahren wird niemand mehr über die Gedanken der aktuellen
Stammeshäuptlinge reden, außer das Personal der Geschichtsschreibung. Dann sind aber
immer noch die Texte all jener Leute, die mich denken gelehrt haben, von Relevanz und
werden Beachtung haben.
Während ich also nun über die Schwelle gelangt bin, ab
der man erkennbar ein alter Mann wird, was übrigens auch zu den höchst unpopulären
Themen der Gegenwart gehört, mag es ja sein, daß ich tatsächlich fällig bin, entlang
der Gleise aus der Stadt hinauszugehen, wie das Ray Bradbury in "Fahrenheit
451" dargestellt hat; siehe dazu den Eintrag
vom 9.4.2019!
Dabei tröstet mich: man muß eben nicht aus der Welt
fallen oder von einer Brücke stürzen, es gibt solche Wälder mit Sicherheit rund um die
Welt. Dort hausen keine Zyniker, denn die bleiben in den Städten. Es läßt sich bei
Bedarf immer wieder neu klären: Was ist selbstverschuldete Unmündigkeit?
Um es mit Immanuel Kant zu sagen, der als Quelle dieser
Formulierung genannt sein muß: "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese
Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der
Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu
bedienen."
Der Text, dem diese Zeilen entstammen, sprengt natürlich
auch das Maß jener Memes, Polemiken und flotten Sprüche, die sich mir derzeit als
relevante Diskursbeiträge aufdrängen. Auf der letzten Seite von "Fahrenheit 451"
schrieb Bradbury: "But now there was a long morning's walk until noon, and if the
men were silent it was because there was everything to think about and much to
remember."
-- [Tesserakt] -- |