14. April 2019 Wir
gehen auf Wahlen zu, was uns schon jetzt rundum ein sporadisches Abfeuern von blumigen
Wortgranaten zumutet. Heimat! Das ist ein beliebter und beleibter
Feuerwerkskörper. Die Werte Europas! Das wird auch gerne genommen. Damit lädt
man ein Salvengeschütz und haut einen Teppich der Betulichkeit in die Landschaft. Abendland
ist grade ein wenig aus der Mode gekommen. (Vielleicht ein Pessimismus-Engpaß in der
Ideologiefabrik.)
Dazwischen tun sich diverse Schwafel-Propheten hervor, an
deren Mitteilungen man eigentlich nicht mehr ablesen kann, ob die sich nun in einem linken
oder rechten Lager aufhalten. Da kommen zum Beispiel solche Wuchteln aus dem Blauen: "Sieh
her, wollen sie uns sagen. Wir kriegen jeden von Euch. Das ist System steht über dem
Menschen."
Da brüllt der Untertan, dem noch niemand gezeigt hat,
durch welche Türen man aus dem Schatten solcher Herrschafts-Konzepte heraustreten
könnte. ("Das System". So nannten Nazi einst die Weimarer Republik
beziehungsweise den österreichischen Ständestaat unter Dollfuß und Schuschnigg.)
Wer mit Argumenten dagegenhält, erfährt eventuell: "Ich
hatte gar nicht die Absicht, eine differenzierte Analyse zu schreiben, dafür gibt es ja
Experten. Ich beschrieb nur die grundsätzliche, sicherlich nicht unerwünschte, wenn
nicht sogar auch beabsichtigte Außenwirkung."
All dieses Fühlen und Raunen, dieses allgemeine
Dahinbehaupten und unscharfe Unterstellen. Pure Esoterik, um nicht zu sagen: Propaganda.
Fragst du so ein Herzchen nach genauen Gründen, die man debattieren könnte, kontert der
Kaffesud-Leser beispielsweise mit: "Nach solchen Präzisierungen als Antwort auf
ein Kommentar bei FB zu fragen ist absurd, schließlich ist das ohne enormen Zeitaufwand
und Recherche gar nicht zu leisten, zumal dies bereits andere getan haben und wer will,
kann sich dort informieren."
Klar. Der Marktschreier hat nur diese eine Botschaft: "Kauft!"
Ein bewährtes Muster. Der Raunende, Wissende, möchte gar nicht erst ins Detail gehen. Da
sollen wir begreifen: Was ich euch eben mitgeteilt habe, ist längst geklärt, ist
komplex und umfassend. Es genügt völlig, wenn ihr mir nun zustimmt und anerkennt, was
doch jeder weiß.
So eben auf Facebook erlebt, Der aufgeplusterte
Herold allgemein bekannter Tatsachen sieht sich selbst nicht bloß links von Dschingis
Khan, sondern auch links von unseren Regierungen, wo mich der Mann dann gleich aus der
Timeline einer gemeinsamen FB-Freundin gefeuert hat, was man in alten Zeiten wohl als
einen Ausdruck von "Mutterwitz" gedeutet hätte. Zitat: "Martin, was
hab ich mit Deiner Brille zu tun, durch die Du die Welt siehst? Richtig. Nichts. Jetzt sei
waonders unzufrieden. Bye."
Das war ein Beispiel für die Amateure des Raunens, wie sie
in den Social Media längst Legionsstärke habe. Jetzt noch kurz zu einem Profi
des Raunens. Ich hatte im Jahr 2006 Gelegenheit, auf der Terrasse eines Gleisdorfer
Restaurants mit dem heutigen Vizekanzler Hace Strache über dieses Phantasma zu reden,
über die "Werte" und die kulturellen Wurzeln des (betont!)
christlichen Europas. Was nahmen wir dabei durch? Die Griechische Philosophie und
das Römische Recht kamen zur Sprache. Das Christentum. Die Aufklärung.
Erledigt!
Da wäre natürlich implizit viel von balkanischen
Wurzeln die Rede. Aber was heute allgemein als Balkan verstanden wird, hat eine
sehr negative Konnotation und entfällt daher oft in den Gesprächen. Bevor die Osmanen in
den Balkankriegen von 1912 und 1913 geschlagen wurden, war da übrigens eher von der Europäischen
Türkei die Rede. (Den etwas präziseren Begriff Balkanhalbinsel haben wir
übrigens erst seit dem frühen 19, Jahrhundert.)
Aber die Antike! Diese Marotte, sich für das Imperium
Romanum zu begeistern, kam auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation
zum Ausdruck, dem zuletzt der um politisches Überleben ringende Habsburger Franz II
vorstand, als Napoleon in Austerlitz das Licht ausmachte und diesen Laden schloß. Die
Nazi-Barbaren knüpften mit ihrer Phantasie vom Dritten Reich an dieses Motiv an,
was bedeutet: sie reklamierten sich in solche Größe und historischen Dimension hinein.
Zwischenruf: Ich setze als bekannt voraus, daß uns die
meisten Werke griechischer Philosophie verlorengegangen waren. Wir bekamen sie von
arabischen Kommentatoren und Übersetzern zurück.
Ich hab im vorgestrigen
Eintrag die Novak'sche Fangfrage erwähnt: "Was sind eigentlich -
unbestreitbare - europäische Werte?" Da war wenigstens schnell geklärt, daß
es keine unbestreitbaren Werte gibt. Jede Idee ist anfechtbar. Aber beim
Europa-Begriff kursieren ziemlich erstaunliche Schrumpfversionen.
Ich hab hier bewußt das Imperium Romanum zur
Sprache brachte. Im Jahr 395 n. Chr. erfolgte jene Reichsteilung, durch die das riesige
Gebiet besser regierbar werden sollte. Ostrom und Westrom wurden aber
weiterhin als zusammenhängend und als Imperium Romanum verstanden, was sich
beispielsweise mit dem nach wie vor einzigen römischen Bürgerrecht, der civitas
Romana, im gesamten Imperium ausdrückte. (Ich halte das für ein ziemlich
interessantes politisches Phänomen.)
Das Westreich war im sechsten nachchristlichen
Jahrhundert Geschichte, Das Imperium Romanum lebte im Ostreich weiter,
bis Byzanz, das "Zweite Rom", 1453 fiel, durch die Osmanen erobert wurde.
Ich betone das, weil dieser tödliche Reichs-Kitsch, den
die Nazi im 20. Jahrhundert inszeniert haben, auf ein Europa hinweist, das eben auch byzantinisch
begründet und gelebt wurde. Dessen jüngere Geschichte handelt von einem Eisernen
Vorhang, hinter dem (von uns aus gesehen) in diesem weitgehend byzantinisch
geprägten Gebieten ganz andere als unsere Werte, Menschenbilder, Weltsichten gediehen
sind, die eben auch Europa ausmachen.
Das sind zum Teil kulturell orthodox und auch muslimisch
gefärbte Gesellschaften, die von einem Sozialismus der UDSSR gebündelt wurden, oder, wie
das versunkene Jugoslawien, das nie Teil des Ostblocks (Warschauer Pakt) war, von
Sonderwegen. Es reicht also keineswegs, sich ein Europa zurechtzuträumen, das sich im
Erwähnen der Griechischen Philosophie, des Römischen Rechtes, des Christentums
und der Aufklärung erschöpft.
Das reicht allein deshalb nicht, weil etwa die Renaissance
und die Aufklärung zu extrem kritikwürdigen Verhaltensweisen eines
vorherrschenden Teils von Europas gegenüber der Welt geführt haben und selbst die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte heute kritische Debatten verlangen würde. Wer mir all
das beim Betonen der Werte Europas unterschlägt, hat meine Aufmerksamkeit sofort
verloren...
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