12. April 2019

Wir gehen auf Europa-Wahlen zu, also fliegen mir nun sporadisch die "Werte Europas" um die Ohren. Das Ausstreuen von Stichworten illustriert den Verzicht auf Tiefe. PR-Berater Martin Novak hat kürzlich im Facebook eine passende Fangfrage deponiert: "Was sind eigentlich - unbestreitbare - europäische Werte?"

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Da waren wir in den Antworten gleich bei „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und „Demokratie“ und „Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung“ und natürlich „Aufklärung“. Das könnte so von einer Postwurfsendung stammen, von einem schlichten Flugblatt, als dessen Absender fast jede unserer etablierten Parteien durchginge, wobei aber auch die Identitären anstandslos im Spiel blieben.

Diese Reflexe zeichnen ein sehr reduziertes Europa, in dem offenbar mittlerweile das Wort Eurozentrismus in Vergessenheit geraden ist. Novak ist Profi. Dem ist das "unbestreitbar" natürlich nicht einfach so hineingerutscht. Ich vermute sogar, Novak setzt berufsbedingt gerade solche Versuchsballons, um zu erkunden, was in der Sache gewußt und gedacht wird.

Wie bemerkenswert, daß in den Antworten auf sein Posting dann zwar bald das "unbestreitbar" in Frage gestellt wurde, aber die Annahme, daß es "europäische Werte" gäbe, über die wir zu verfügen hätten, blieb außer Diskussion. Es ist eine Falle, die man sich selbst baut, wenn man annimmt, man pflege Werte, die geradezu universell seien, welche vor allem aber die eigene Gemeinschaft als genuine Quelle hätten.

Das ist die alte Arroganz des weißen, gut situierten Teils Europas. Gerade der jüngste Rechtsruck in Europas Politik illustriert die Präsenz und Wirkmächtigkeit ganz anderer Konzepte. Das Gezänk und Geschimpfe in den öffentlichen Auseinandersetzungen darüber sehe ich hauptsächlich als eine Art Ersatzhandlung, mit der wir uns um etliche Klärungsschritte drücken.

Dazu gehört für mich die unaufgeregte Feststellung, daß die "Werte Europas" sich heute zuerst einmal als ein Propaganda-Paket erweisen, das von unterschiedlichen politischen Formationen ganz unterschiedlich befüllt und für sich reklamiert wird. Wer die "Werte Europas" als Sammelbegriff anwendet, bedient sich eines ideologischen Kampfbegriffes. Ich bin prinzipiell auf der Hut, wenn jemand blank zieht, egal, in welcher Ecke das geschieht.

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Ich würde vorziehen, daß wir aktuell klären, was wir mit Europa derzeit eigentlich meinen. Wenn wir dann erörtern, welches ethische Konzept vorrangig welche Werte beinhalten soll, wäre das eine gute Gelegenheit, nachzusehen, wer innerhalb anderer Ethnien diese Werte ebenfalls hochhält. Es hat ja keine Gemeinschaft ohne ihren eigenen Moralkodex irgendwelchen Halt, also könnten wir rund um die Welt viel an Gemeinsamkeiten entdecken. Gerade unsere europäischen Erfahrungen seit der Renaissance sollten uns ausreichende Warnung davor sein, eigene ethische Konzepte fraglos über jene von anderen Gemeinschaften zu stellen.

Dazu kommt der romantische Witz, daß Europa, dieses Zwerglein am Rande des eurasischen Riesenkontinents, längst nicht mehr die Macht hat, seine Kriterien und Ansprüche generell durchzusetzen. Wir sehen allein schon, was sich das Regime Rußlands mit uns an politischen Scherzen gönnt, ob es nun Funktionstragende der FPÖ, der Identitären oder der AfD sind. Was hätten wir europäische Perlen des Weltgeschehens mit welcher Lautstärke dann etwa China auszurichten?

Ich wünschte mir, wir würden verfügbare Kräfte dafür nutzen, unser Selbstverständnis und unseren Status zu klären. Dabei nützt uns der gegenwärtig wieder aufkeimende Schlagwort-Salat gar nichts. Wer nun zur kommenden Wahl "Heimat" brüllt, könnte stattdessen auch "Gulasch" brüllen oder "Papiertaschenücher". Es ist in der Sache ebenso aussagekräftig, hat also nahe Null auffindbare Bedeutung.

Darf ich ein wenig Prophet spielen? Der 9. Mai gilt als Europatag. Diesem interessanten Anlaß, sich zu vergewissern, wer und was wir denn sein möchten, entzieht sich politisches Personal ganz gerne, indem es uns auf diversen Hauptplätzen eine Mischung aus Volkstanz, Kulinarik und Tourismuswerbung serviert. Und zwar vorzugsweise mit pittoresk kostümierten Gästen aus einem ärmeren Land, dessen Schönheiten wir wohlfeil bereisen könnten. (Ein fernes Echo des Kolonialstils.)

Aber ich lasse mich gerne überraschen und belehren, daß es nun wirklich anders kommt. Nicht nur der enorme Rechtsruck in Europa, auch der schillernde Brexit und ähnliche Absetzbewegungen geben reichlich Anlaß, in den Spiegel zu blicken und halbwegs aufrichtig zu erörtern, was wir da sehen....

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