29. März 2019 Ich hab
im Eintrag vom 27.3.2019 notiert: Wir fühlen
uns oft bemüßigt, eigene Standpunkte mit der Aufklärung und der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte zu begründen, zu legitimieren. Dabei werden Webfehler dieser
Phänomene einfach unter den Tisch gekehrt.
Was die Aufklärung dem Eurozentrismus
für Mittel an die Hand gab, sollte inzwischen klar sein. Damit bekamen die kolonialen
Bestrebungen europäischer Kräfte eine Menge ideologisches Rüstzeug. Als eines der
entsetzlichsten Beispiele dafür erscheint mir König Leopold II. von Belgien. Er besaß
einen Teil des Kongo als sein Privateigentum und richtete dort ein Schreckensregiment
völlig ungezügelter Gewalttätigkeit ein, um das Land auszuplündern.
Und zwar im späten 19. Jahrhundert, als Europa seine
boomende Fahrzeugwelt (Fahrräder, Motorräder, Automobile) mit Pneumatiks
auszustatten begann, mit Luftreifen, was den Bedarf an Gummi fast endlos steigerte.
Leopold zwo hatte das Glück, daß im Kongo damals schon genug jener Kautschukbäume
standen, die andere erst anbauen mußten, um ins Geschäft zu kommen.
Die rassistisch begründete Schreckensherrschaft der
Königs auf einem entlegenen Kontinent steht als exemplarisches Beispiel für viele andere
Raubzüge solcher Art. Siehe dazu den Eintrag
vom 23. November 2016! (Heute sind es die Kobalt-Minen im Kongo, nach denen die
Autoindustre für ihre Batterien greift.)
Zu jener Zeit wurde die Idee der Menschenrechte
längst diskutiert. Sie bekam schließlich durch den Ersten Weltkrieg enorme
Schubkraft, weil dieser Krieg in ganz Europa zu ethnischen Begradigungen führte und
Millionen von Menschen dieser oder jener Ethnie von Nationalstaaten abtrennte. (Europa
erlebt doch jetzt nicht zum ersten Mal riesige Flüchtlingsströme!)
Diese Prozesse sind uns teilweise in kulturellen
Phänomenen noch erhalten, wie zum Beispiel das Rembetiko als ein spezifischer
Musikstil vertriebener Menschen. Anfang der 1980er löste ein Film bei uns großes
Interesse an dieser Musik aus: "Rembetiko" von Costa Ferris.
Das dockte an jene Motive an, die wir in Graz schon
kannten, weil wir unter unseren Freunden etliche alt gewordene Studenten hatten, die sich
teils als Kellner, Musiker oder Glücksspieler durchschlugen, nachdem sie vor der
griechischen Junta geflohen waren. Die Arbeiten von Regisseur Costa Gavras gehörten
ebenso zu unserem Hausstand wie Musik von Theodorakis und der Klang der Stimme von Maria
Farantouri. Später, anfang der 2000er Jahre, waren viele von uns sehr bewegt, wie
Regisseur Tassos Boulmetis das Thema Vertreibung in "Zimt und Koriander"
aufgegriffen hat.
Rückblickend läßt sich sagen, zu der Zeit waren wir uns
schon viel zu sicher, die Konsequenzen der eigenen Junta, des Nazismus,
weitgehend abgearbeitet zu haben. Eine sehr leichtsinnige Annahme. Ich denke, wir haben
die Banalität solcher Persönlichkeiten weit unterschätzt, den dürftigen Mantel ihrer
Wirksamkeit versehentlich für aussagekräftig gehalten.
Der Faschismus hatte uns keine beeindruckenden Personen
angeboten. Das Zappeln und das Gebrülle von Nazigrößen, wie es uns alte Filme heute
noch zeigen, ihre Posen und Grimassen, sind bestenfalls erheiternd, eher lächerlich. Auch
Roland Freisler, ein Jurist von furchterregender Effizienz, seine Opfer unter zynischen
Tiraden dem Tod auszuliefern, gibt im Schatten dieser Grausamkeit bloß eine Witzfigur,
deren Grimassen und Stimmlagen ermüdend sind.
Liegt darin einer der Gründe, daß Tyrannen den Komikern
und Kabarettisten so gerne im Nacken sitzen und ihnen vorzugsweise das Lebenslicht
ausblasen? Ist es diese eigene Nähe zur Witzfigur? Was soll ein Böser, der böse wirken
möchte, außer letztlich zur Lachnummer zu werden? (Chaplin hatte das schon vorab
demonstriert.)
Im Film "Constantine"
(2005, Francis Lawrence) spielt der Schwede Peter Stormare eine sehr amüsante Version des
Teufels, mit der man sich auf ersten Blick durchaus anfreunden könnte. Ich erinnere mich
an ein Interview mit Stormare, in dem er ungefähr gefragt wurde, warum er in dieser Rolle
auf einschüchterndes Auftreten und Funkenflug verzichtet habe. Sein Antwort lautete
sinngemäß und treffend: "Ich muß doch nicht gefährlich wirken, ich bin
gefährlich. Ich bin Satan."
Wenn wir uns heute wundern, daß seit etlichen Jahren der
Umgang mit Flüchtlingen und Immigranten daran zweifeln läßt, daß wir uns in Fragen der
Menschenrechte auf der Höhe der Zeit bewegen, kommt das vielleicht daher, daß wir unsere
Hausübungen nicht gemacht haben.
Es ist unübersehbar, wie die reale Begegnung mit
Flüchtlingsströmen einerseits, die darüber medial verbreiteten Phantasmen andrerseits
an einer Renationalisierung europäischer Politik äußerst beschleunigend
gewirkt haben. Wer nun annimmt, das käme hauptsächlich von dieser oder jener
individuellen Fremdenfeindlichkeit, denkt viel zu kurz.
Ein Webfehler der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte liegt in der Tatsache, daß sie in der Praxis vor allem weißen
Männern zugute kommen, die konkrete Staatsbürger sind. Giorgio Agamben hat in seinem
Buch "Homo sacer" sehr anregende Hinweise vorgelegt, welche
ideengeschichtliche Entwicklung uns dazu gebracht hat. Es gibt eine historische
Verknüpfung von Menschenrecht und Nationalstaat.
Agamben stützt sich dabei unter anderem auf Hannah Arendt
und Michel Foucault. Um über das nackte Leben hinauszukommen und dem Menschen
einen klaren Rechtsstatus zu sichern, ist jener Prozeß für uns besonders einprägsam,
der aus Untertanen Bürgerinnen und Bürger werden ließ; im Sinne eines
Staatsbürgertums. Das war in der Geschichte Frankreichs eher politisch gedacht, in der
deutschen und österreichischen Geschichte eher kulturell und ethnisch.
Agamben deutet die Erklärung der Menschenrechte als einen
Ort, "an dem sich der Übergang von der königlichen Souveränität göttlichen
Ursprungs zur nationalen Souveränität vollzieht". Wenn also heute jemand "Österreich
zuerst!" brüllt, illustriert das diesen Zusammenhang.
Der Mensch hat a priori sein nacktes Leben, aber
Menschenrechte faktisch erst, wenn er Staatsbürger ist, einem Nationalstaat zugerechnet
werden kann und so diesen Saat im Rücken hat, um sein Menschenrecht durchzusetzen.
Wo der Untertan zum Bürger wurde, also dem Kaiser die
gottergebene Souveränität abnahm und selbst Souverän wurde, mußte das seine
(staatliche) Ordnung haben. Damit bin ich wieder beim Motiv der veralteten Narrative, das
ich hier nun schon über einige Seiten bearbeite. Wir haben allerhand aktuellen
Klärungsbedarf...
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