27. März 2019 Aus den
letzten Status-Betrachtungen in dieser Leiste ließe sich zusammenfassen: die alten
Narrative Europas haben uns nicht befähigt, daraus Next Codes abzuleiten,
mit denen wir die aktuellen Retro- und Rechtskurse europäischer Politik hätten
wirkungsvoll beantworten können.
Künstler Nikola Dzafo in Novi Sad
Knapp gefaßt: Die faschistische Erzählung wurde
in Details recycelt, die sozialistische Erzählung dient als Kontrastmittel zur
Abgrenzung, die liberale Erzählung wurde renationalisiert. Das ergibt ein
kompaktes Paket, mit dem sich die Leute auszukennen meinen, vor allem, wenn man ein
großes Etikett mit dem Wort Heimat draufklebt. Darin ist freilich kaum etwas an
Zukunftsfähigkeit.
Andrerseits, das Beschimpfen und Verhöhnen
rechtspopulistischen Personals halte ich für eine unerträgliche Pose, die ich
bestenfalls als genuinen Beitrag zu diesen Retrokursen verstehen kann. Anders
ausgedrückt, wer solche Opponenten öffentlich beschimpft und beleidigt, stellt sich in
ihr Lager. Ich kann dabei einen qualitativen Unterschied der Posen nicht bemerken.
Wir fühlen uns oft bemüßigt, eigene Standpunkte mit der Aufklärung
und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu begründen, zu legitimieren.
Dabei werden Webfehler dieser Phänomene einfach unter den Tisch gekehrt. Kurios, denn es
gibt aus heutiger Sicht überhaupt keinen guten Grund zur Beschönigung.
Mathematiker Heimo Müller in
Albersdorf
Erst die Aufklärung hat uns Werkzeuge und
Denkmuster geliefert, um den Rassismus zu basteln. Der lieferte ein wirkmächtiges
Arsenal, um später den Nationalismus zu bewaffnen. Ab dem 18. Jahrhundert machte
sich Europa mit Formen des rationalen Denkens, dessen Schattenseiten gar nicht übersehen
werden können, stark, erhob sich neuerlich über den Rest der Welt. Dieses aufgeklärte
Europa ging nach Verdun, nach Auschwitz und Srebrenica.
Davor hatten Päpste das Ausplündern der Welt durch
europäische Kräfte legitimiert, mochten dabei irrationale Konzepte anwenden, dank derer
etwa Nichtchristen zu Nichtmenschen erklärt und bedenkenlos getötet werden
konnten. Zwei der bedeutendsten Dokumente solcher Modalitäten waren der Vertrag von
Tordesillas (1494) und der Vertrag von Saragossa (1529).
Doch solche Vertragswerke brauchen Werkzeuge und Medien
für die Umsetzungen. Etwa zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert hatten sachkundige Kräfte
einen Schiffstyp entwickelt, der diese Raubzüge und das Austöten in fernen Ländereien
überhaupt erst möglich gemacht hat: die Karavellen. (Siehe dazu den Eintrag vom 31. Jänner 2017!)
Dazwischen sehe ich auf dem Zeitpfeil in Richtung unserer
Gegenwart den reichlich irrational begründeten Dreißigjährige Krieg (1618 bis
1648) mit seinen waffentechnischen Innovationen, und später die gesamte Gegenreformation,
als bedeutende europäische Schulen der Heuchelei und der Menschenverachtung. Ein Verweis
in tiefere Schichten unserer Geschichte scheint mir hier nicht weiter nützlich und
notwendig.
Duo diSTUKTURA in Gleisdorf
Aber wer sich fragen sollte, wann es wohl losgegangen sein
mag, daß Menschen sich zu verstörenden Grausamkeiten aufgerafft haben, sollte dabei
nicht "Die Natur" strapazieren, wie manche gerne sagen, die Natur sei
grausam. Wir wissen es heute besser und etwas genauer. Funde aus der Zeit der Neolithischen
Revolution belegen in Europa eine damalige Novität: Massaker, bei denen die Menschen
gefoltert wurden, bevor man ihnen das Leben nahm.
"Sagt Ihnen der Name Schletz etwas?"
Siehe zum Thema "Neolithic massacre(s) in early Europe" den Eintrag vom 22. Jänner 2018. Was immer
uns daher die Natur an Möglichkeiten zur Gewaltausübung gegeben hat, sie ließ uns dazu
keine sehr wirksamen Körperwaffen, wie es Klauen und Zähne hätten sein können. Die
Bereitschaft zur Gewaltausübung haben wir Menschen dann offenbar kulturell verfeinert,
entwickelt, über lange Zeiträume kultiviert. Und wir haben sie technisch durch tödliche
Prothesen hochgerüstet.
Die Niedertracht, von der ich dieser Tage mehrmals zu
erzählen hatte, ist meiner Meinung nach eine Variation der Bewaffnung, mit
besonderer Heimtücke ausgestattet. Der Staat, wo er sein Gewaltmonopol
durchsetzen kann, hat verdeckte Waffen extra strengen Bestimmungen unterworfen
und bestraft jene hart, die sich diesen Bestimmungen widersetzen. In unserem Rechtssystem
gilt Heimtücke als erschwerendes Tatbestandsmerkmal.
Niedertracht ist ein verdeckte Waffe, die wir nur
kulturell unter Kontrolle kriegen, soweit wir dagegen keine vergleichbaren Mittel anwenden
möchten. Kulturelle Mittel. Konventionen und Codes.
Wie schon erwähnt, mit möglichen Next Codes sind
wir vorerst nicht weit gekommen. Auch sehr kritische Geister, die sich demonstrativ den
Menschenrechten und der Demokratie verpflichten, argumentieren und handeln -- so weit ich
sehe -- hauptsächlich im Geist der alten Narrative, der liberalen Erzählung,
die wir im vorigen Jahrhundert hochgehalten haben.
Also braucht es vielleicht einige Axiome, um in
einem nächsten Abschnitt menschlicher Gemeinschaft zu einer neuen Erzählung zu finden.
Axiome sind Annahmen, die nicht von Vorgegebenem oder Vorgefundenem abgeleitet wurden. Ein
Axiom ist der Grundsatz, der als wahr angenommen wird und dabei keiner Begründung bedarf.
Damit wäre ich erneut bei der Utopie,
die mit künstlerischen Mitteln angestrebt wird, wie das Selman Trtovac fordert. Hier mag
deutlich werden, warum ich Begriff und Bild des Tesseraktes für mein aktuelles
Teilprojekt gewählt habe. (Rechts ein Tesserakt, Wikimedia Commons, GNU Lizenz). Der vierdimensionale Hyperwürfel
symbolisiert im Kern meinen Aufenthaltsort im alten Narrativ, denn selbstverständlich bin
ich ein Kind meiner Zeit und jener Denkweisen. Ich kann nicht zu mir selbst auf Distanz
gehen. (Ich wüßte auch nicht, warum ich das sollte.) |
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Es ist vielen Menschen nicht
gar so klar, daß die Kunst ein guter Anlaß ist, belebte Denkräume aufrecht zu erhalten.
Wäre sie nur dazu da, es gäbe keinen besseren Grund. Künstlerische Mittel sind per
Definition von jenen unterschieden, mit denen wir unseren Alltag bewältigen. Wer das für
überflüssig hält, hat nicht verstanden, was die Evolution in dieser Sache mit uns seit
über 70.000 Jahren macht.
-- [Tesserakt] -- |