27. April 2018 "Es könnte dem Menschen genügen, jeden Tag satt zu
werden. Der Mensch möchte nicht frieren. Dann wären da noch weitere Annehmlichkeiten,
für die man keinerlei Talent zur Transzendenz braucht. Warum genügt das nicht?"
So beginnt eine der Passagen meines Textes für die morgige Session im Rahmen der
Quest. Heute abend habe ich dagegen zu skizzieren, "was einzelne
etablierte Kreise dem subalternen Volk an Kultur zutrauten und zugestanden."
Dazu paßt, daß ich gestern erneut in der Küche zum Project
Space des SPLITTERWERK saß. Dort halten Edith Hemmrich und Mark Blaschitz
gelegentlich Espresso für mich bereit. Eine Anordnung im 13. Stock jenes Hauses, das mich
an ein kleines Dorf denken läßt und dessen schmales Treppenhaus mich an meine Kindertage
erinnert, wo ich auf halber Höhe gewohnt habe, im siebten Stock.
Ende März meine erste Ikarus-Session dieses
Jahres, morgen die dritte.für die Nikolaus Pessler heute schon seine Beuyse ausgewählt
haben dürfte. Ist diese Station absolviert, werde ich mich mit Pessi auf das 20.
Jahrhundert konzentrieren, während ich mit Blaschitz noch eine Weile nach der Antike
sehen muß.
Ich durfte übrigens gestern eine Marylin
nachhause mitnehmen. Das ist ein Print, der für eine überaus komplexe Geschichte steht,
für einen auslandenden Denkprozeß, der beim SPLITTERWERK vor Jahren über Las
Vegas geführt hat, genauer über "Learning from Las Vegas" (Venturi,
Brown and Izenour).
Wie treffend, wo noch einige Klärungsarbeit ansteht, was
die Zusammenhänge zwischen Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst betrifft,
die mich derzeit so intensiv beschäftigen. So wäre nun Andy Warhol quasi symbolisch
vorbeispaziert. Beuys ist morgen dabei. Duchamp war während der zweiten Ikarus-Session kurz
bei uns. Das fügt sich ausgezeichnet.
Daß ich nun noch an Buckminster Fuller denke, hängt mit
den gestrigen Nachtstunden zusammen. Blaschitz hatte mir ein Buch mitgegeben, das mich mit
Sigfried Giedion vertraut machen wird: "Raum Zeit Architektur". Eine
erste Durchsicht hatte mich vor dem Einschlafen so eigentümlich angerührt, ein Gefühl
ausgelöst, das mich daran erinnerte, wie ich anfing, mich mit Buckminster Fuller
auseinanderzusetzen.
Das paßt nun so sehr zum Aspekt "Learning from
Las Vegas", woraus ich eine Vorstellung bezogen hab, wie eine Stadt gebaut sein
kann, daß man ihre Codes vom fahrenden Auto aus liest. (Das mag manchen skurril
erscheinen, aber ich zeig bei Bedarf gerne Stellen der Kleinstadt Gleisdorf, die nach eben
diesen Anforderungen gestaltet sind.)
Um es nun noch einen Tick verwirrender zu machen, wie sich
das auch für mich unterwegs oft gestaltet, wir waren durch Giedion bei Sokratis
Georgiadis angelangt, den Blaschitz kennt und von dem eine "Eine intellektuelle
Biographie" über Giedion stammt. Der, Georgiadis, ist davon überzeugt, daß
die antiken griechischen Tempel gebaute Abbilder von Kulthandlungen (Prozessionen) seien,
wie er aufgrund seiner Forschungen belegen möchte. (Das Gebäude repräsentiert
Bewegung.)
Eine Passage in "Raum Zeit
Architektur" von Sigfried Giedion
Das ist eine umwerfende Vorstellung für mein Nachdenken
über Mobilitätsgeschichte, zumal mir Blaschitz ausführlich erläutert hat, wie die
Architektur mit Sakralbauten begann und nicht mit profanen Bauten. Das heißt ganz
einfach, bevor die Menschen Häuser für sich errichteten, bauten sie Kultstätten. Diese
Bauwerke mußten sich nicht für den Alltag bewähren, im Bewohnen durch Menschen, sie
waren der Transzendenz gewidmet, was -- naheliegend -- ganz andere Bauweisen erlaubt.
Das korrespondiert sogar noch mit Las Vegas, denn die
Architektur der Sin City hat ja ebenfalls enorme Anteile, die keinem praktischen
Nutzen, sondern symbolischen Aspekten gewidmet sind. (Man könnte sagen: Sünde
ist gelebte Transzendenz.) Muß man das alles wissen? Nein! Aber ich schon. Und nun?
Ich werde heute
Abend bei der Eröffnung des Festivals schon einen inhaltlichen Vorboten losschicken, der
die morgige Session anbahnt. Dazu lautet mein Thema vorerst "Fallhöhe",
was sich auf die menschliche Eigenart bezieht, ständische Gesellschaften zu formieren, in
denen soziale Hierarchien gebaut werden, die sich in kulturellen Konzepten abbilden. Dabei werden in der Bevölkerung subalterne Schichten markiert, die
man über eine Vorstellung von kultureller Fallhöhe abwertend kennzeichnet.
Wie erstaunt war ich darüber, als ich den vergleichbaren
Effekt in einer quasi inversen Variante entdeckte hab. Eine Art der Verschnöselung
des Kulturgeschehens, in dem kulturelle Leistungen simuliert werden und so gleichermaßen
eine Hierarchie konstituieren, die -- wie angedeutet -- aus der bloßen Andeutung
kultureller/künstlerischer Qualitäten errichtet wird. |
|
Um deutlich zu machen, was ich
behaupte: Die hierarchisch angeordnete Ständegesellschaft kennt eine kulturelle
Hierarchie, in der Minderheiten ihre Superiorität behaupten und darstellen,
wobei Kunst und Kultur wichtige Mittel sind. Um das befestigen zu können, sind diese
Eliten auf einen subalternen Teil der Bevölkerung angewiesen, der als inferior
gekennzeichnet werden kann, wozu er auch in den passenden Lebensumständen gehalten werden
muß..
Diese sozusagen ständische Anordnung
kann man auch wenden wie einen Handschuh, um sich in einer behaupteten Hierarchie
von unten nach oben zu reklamieren. Wieso das jemand tun sollte?
In einer Gesellschaft emsiger
Selbstoptimierer, wo Sichtbarkeit vor Authentizität geht, erscheint der Erwerb von Wissen
und Kompetenzen manchen Menschen viel zu mühsam und zu zeitaufwendig. Wer dabei dennoch
sein Sozialprestige aufpolieren möchte, braucht dazu Strategien. Dafür läßt sich an
manchen Stellen in das Getriebe der "Distinktionsmaschine Kultur"
fassen, um an diesem oder jenem Rädchen zu drehen.
Dabei ergibt sich so ganz nebenbei ein großes
Problem daraus, daß wir in der Mittelschicht mit wachsenden Dimensionen eines
Bildungsbürgertums konfrontiert sind, das auf Bildungsinhalte weitgehend verzichtet. Wo
aber einschlägige Kompetenzen nur mehr simuliert und inszeniert werden, statt sich in
Diskursen und Werken zu bewähren, breitet sich eine kulturpolitische Krisensituation aus,
die zum Beispiel der Neuen Rechten enorm nützt.
Ich vermute, daß ohne diese schwächelnde
Mittelschicht mit ihrem wachsenden Mangel an intellektueller Selbstachtung jene
präfaschistischen Tendenzen, die wir derzeit in Europa beobachten können, zum Gedeihen
nicht einmal die Hälfte des Bodens hätten.
Ich hab schon im gestrigen Eintrag, übrigens das Blatt
Nummer 2500 in meinem Logbuch, zu solchen Überlegungen notiert: "Das zu
beklagen, halte ich für müßig." Es verlangt bloß nach Wissens- und
Kulturarbeit, die der Kritik standhält.
-- [Die Quest III] -- |