19. Dezember 2017 Ich
habe lange Zeit gedacht, daß die politische Zuschreibung "rechts" und "links"
ausgedient habe. Dieses Orientierungssystem, das wir seit der Französischen
Revolution kennen, sei längst nicht mehr geeignet, politische Verhältnisse
angemessen zu markieren. Mir schienen die vertrauten Landkarten der Lagerbildung
untauglich.
Ich muß diese Ansicht aktuell revidieren, eine bipolare
Skala paßt offenbar auf Österreich. Ich halte mich selbst für einen Linken mit einem
kleinen Problem. Wo es mir um Zugehörigkeit ginge, wäre ich in der historischen
Sozialdemokratie zuhause, die aber eben Vergangenheit ist. Zugehörigkeit ist mir ein
wichtiges Thema. (Ich kann der Pose des Solitärs nichts abgewinnen.)
Es geht mir da um eines der beiden Grundbedürfnisse, die
Neurobiologe Gerald Hüther als vorrangige Anliegen des Menschen betont: Zugehörigkeit
und Autonomie. Das scheint mir sehr plausibel. Es mag bei erstem Hinsehen widersprüchlich
klingen, ist aber in soziokultureller Praxis ganz naheliegend.
Mehr noch, gerade in der Befassung mit Kunst wird sehr
leicht deutlich, daß wir keine Wahrheiten produzieren, indem wir Widersprüche
eliminieren, daß also zum Beispiel Widerstreitendes oft jene Spannungsverhältnisse
bietet, in denen wir vorankommen. Etwa die Spannung zwischen Zugehörigkeit und Autonomie.
Nun habe ich über Jahre erlebt, wie in Europa politische
Tendenzen zu Positionen rechts von Dschingis Khan führen, also finde ich mich selbst
links aufgestellt und mir fällt kein komplexeres Koordinatensystem ein, über das sich
die Lage treffender darstellen ließe.
Bert Brecht schrieb in einem Text, der mir wichtig ist: "Wenn
das Volk entwaffnet ist / Kommt der Krieg." Das beziehe ich auf unsere
Gegenwart nicht als eine Empfehlung, Gewehre im Schrank zu holen. Die 1930er Jahre sind
lange vorbei und was mir an Wehrhaftigkeit nötig erscheint, ist sehr viel mehr geistiger
Natur, sollte in kulturellen Zusammenhängen erkennbar sein.
In diesem Sinn möchte ich eine weitere Textpassage in
diesem Werk von Brecht verstanden wissen, nämlich aufs Geistige übertragen, das seine
konkreten Orte braucht, die konkret belebt werden müssen: "Sie kamen in Linz und
sie kamen in Graz / Und sie kamen in Bruck an der Mur / Und es holte sich blutige Nasen /
Was gegen Arbeiterheime fuhr."
Die Arbeiterheime in jenem Text nehme ich daher
metaphorisch für konkrete/analoge Räume eines anspruchsvolleren geistigen Lebens, das
sich nicht in Konsumation erschöpft, sondern auch die Partizipation als wichtig betont.
Wie immer man Politik heute verstehen möchte, ohne Partizipation bliebe uns letztlich nur
eine Existenz in Platons Höhle.
Gegen Ende der Kantate von Bert Brecht, aus der ich hier
zitiere, heißt es: "Im Februar vierunddreißig / Der Menschlichkeit zum Hohn /
Hängten sie den Kämpfer / Gegen Hunger und Fron / Koloman Wallisch /
Zimmermannsohn." [Quelle]
Vor fast hundert Jahren hatte also die Steiermark in Koloman
Wallisch eine politische Persönlichkeit, die sich den Folgen der Zweiten
Industriellen Revolution sowie der Faschisierung Europas persönlich
entgegenstellte. Man mag auch andere Beispiele finden, die selbst heute als
Orientierungspunkte nützlich sein könnten.
Da schließe ich nun an meinen Eintrag von gestern an. Wenn unsere Bundespolitik einen so frappanten
Rechtsruck vollziehen konnte, dann liegt das nicht bloß an den Promotoren dieser Politik.
Es liegt auch daran, daß wir ihnen so viele Themen überlassen haben, wobei nun allerhand
Zeit und Kraft vergeudet wurde, sie dafür zu diffamieren, statt ihnen etwas ausreichend Wirksames
gegenüberzustellen.
Mir war das im medialen Geschehen der letzten Jahre am
Beispiel jener "Angst vor der Islamisierung Europas" so sehr
aufgefallen. In einem Aspekt standen wir da mit den vaterländischen Kräften Schulter an
Schulter. Eben im Diffamieren von Opponenten, statt vor allem zu zeigen, worin denn nun
unser eigenes Kulturverständnis und unser Politikverständnis einem anderen überlegen
sei. Daher hier wieder die schon zitierte Forderung: "Dont' tell me, show
me!"
Erzähl mir gefälligst nicht, daß deine kulturelle Nische
anderen Konzepten überlegen sei, zeig es mir! Damit behaupte ich eine
angemessene kulturelle und politische Lebenspraxis als maßgeblich gegenüber dem
Diffamieren anderer Konzepte. Nicht das übliche Gebrüll bestätigt die Bedeutung
"unserer" kulturellen Wurzeln und Traditionen, "unserer" Identität
und jener nicht so genau geklärten Lebensverhältnisse, in die Andere, Fremde, wer auch
immer, "integriert" werden sollten.
Wer das Abendland oder auch bloß Österreich gegen was
auch immer "verteidigen" möchte, sollte das primär mit der eigenen Praxis im
Sozialen und in der Kultur tun. Genau darum hat sich übrigens die Neue Rechte
seit wenigstens den 1980er Jahren konsequent bemüht und damit enormen Erfolg gehabt, wie
sich nun unübersehbar zeigt. Ihre kulturellen und sozialen Praxen zeigen große
Anziehungskraft, was sich in Wahlergebnissen niederschlägt.
Das erklärt die gegenwärtige Situation nicht
erschöpfend. Die aktuellen Flüchtlingsbewegungen wurden zu einem Geschenk für
vaterländische Kräfte, Social Media ebenso, wie auch die erkennbaren Schwächen
weiter Bereiche des politischen Personals, das aus der Politik inzwischen eine Praxisform
der Public Relations gemacht hat. Wer hätte uns das deutlicher vorgehüpft als Nachbar
Deutschland, wo aus eben solchen Zusammenhängen bis heute keine neue Regierung formiert
werden konnte?
Ein weiteres Geschenk für die vaterländischen
Kreise sind aktuelle Umbrüche, in denen unsere Kinder erhebliche Identitätsprobleme
zeigen, bei denen wir ihnen offenbar in weiten Bereichen keine besondere Hilfe sind. Und
nun? Ich wiederhole die Passage: "Sie kamen in Linz und sie kamen in Graz / Und
sie kamen in Bruck an der Mur / Und es holte sich blutige Nasen / Was gegen Arbeiterheime
fuhr."
Oben war schon klargestellt, ich deute das für die
Gegenwart nicht als eine Empfehlung zu Kampfhandlungen, zu Waffengängen, indem man
Gewehre aus den Schränken holt. Blutige Nasen können nur eine Metapher für
harte Konfrontationen in der Auseinandersetzung über Inhalte sein. Arbeiterheime
sehe ich hier metaphorisch für konkrete Räume geistiger Auseinandersetzungen, denen
konkrete kulturelle und soziale Praxis folgt.
Also stellen sich uns kultur- und bildungspolitische
Fragen. Da kann sich niemand meiner Generation in Ausreden flüchten, denn für unsere
diesbezügliche Verfaßtheit ist keinerlei staatliche Instanz mehr verantwortlich, das
sind nur wir selbst. Zu welchen Themen sollten wir im Kulturbereich inhaltlich ausreichend
kompetent aufgestellt sein, damit die Neue Rechte solche Terrains nicht allein
für sich hat?
Die medialen Stürme der letzten Jahre machten deutlich:
Volk, Nation, Heimat, unsere Geschichte, Kultur und Identität, nicht nur die
Österreichs, auch die Abendlandes, die Volkskultur, die Bildungsbelange, Fragen zur
Geschichte und Zukunft Europas im Verhältnis zur übrigen Welt, Fragen zur Vierten
Industriellen Revolution, all das steht zur Debatte.
Kulturelles Engagement, das sich in dieser oder jener Weise
institutionalisiert, muß letztlich auch Beiträge zu diesen Diskursen liefern, muß zu
einem geistigen Klima beitragen, das sich medial entsprechend manifestiert, also Bereiche
im öffentlichen Diskurs besetzt; und zwar nicht sporadisch, anlaßbezogen, sondern
kontinuierlich, ganzjährig. Nicht nur in den Zentren, auch in der Provinz.
Als man die Gesellschaft noch in Schichten beschreiben
konnte, schien das selbstverständlich zu sein. (Daher wohl auch der etwas gruselige
Begriff "bildungsferne Schichten".) Das regionale Kulturgeschehen, in
welches ich eingebunden bin, zeigt nun deutlich:
+) Wir haben den Umbruch vom historischen Broadcasting (Ein Sender, viele
Empfänger) sozial und kulturelle nicht bewältigt.
+) Wir sind mit nächsten Schritten der Globalisierung nicht klargekommen.
+) Wir haben das Anbrechen der Vierten Industriellen Revolution praktisch
verschlafen.
+) Ich kann mich nicht mehr darauf verlassen, daß sich ein regionales Bildungsbürgertum,
von dem Ansprüche auf Themenführerschaft ausgehen, auch als hinreichend gebildet
erweist, um solche Diskurse zu führen.
Ich sehe das heute recht unaufgeregt, denn es besagt bloß,
daß wir langsam anfangen könnten, in solchen Fragen aktiv zu werden. Dabei wird es uns
keinen Zentimeter weit nützen, uns im Diffamieren von vaterländischen Kräften
zu verausgaben. Es geht momentan um konstruktivere Anstrengungen.
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