19. Juli 2017 In "Die
süße Haut" (1964) [link] erzählt Francois Truffaut die Geschichte des Literaturkritikers
Pierre Lachenay. Sein Kompaß zeigt nur auf ihn selbst. Er ist im Umgang mit seiner
Ehefrau und seiner Geliebten von einer derart tölpelhaften Orientierungslosigkeit, daß
es ihn schließlich das Leben kostet.
Es gibt in diesem Film eine bezaubernde Passage, da
Lachenay die Flugbegleiterin Nicole in Lissabon zu einem Rendezvous überreden kann und
den ganzen Abend lang von Balzac erzählt, was ihm auf rätselhafte Weise ihr Zimmer
öffnet.
Lachenay vollendet die Offenlegung seiner Untauglichkeit
als Liebender in Reims, wo er einen Film über André Gide einbegleitet, also über einen
Mann, der gesagt haben soll: "Es geht mir nicht um eine Doktrin. Ich weigere
mich, Ratschläge zu erteilen."
Lachenay zitiert den Nobelpreisträger: "Aber ich
weiß heute, daß viele im Dunkeln gehen und unsicher sind und nicht wissen, wem sie
vertrauen sollen. Ihnen will ich sagen: Glauben sie denen, die nach der Wahrheit suchen
und mißtrauen sie denen, die sie gefunden haben. Zweifeln sie an allem, aber zweifeln sie
niemals an sich selbst."
Das paßt gut zu diesen Tagen. Ich bin kürzlich in eine
Debatte geraten, die jemand mit einem Appell "Gegen falsche Toleranz"
eröffnet hat. Das ist ein Schlachtruf vom Boulevard, ungefähr in der Qualität
der "numerierten Witze". Kenne sie diesen Witz vom Witz? Er handelt von
erfahrenen Witzerzählern, die jeweils über ein unermeßliches Repertoire verfügen. Um
sich die Mühe des Erzählens zu mildern, habe sie die Witze durchnumeriert und können
sich nun schon beim Ausrufen bloß einer Nummer prächtig amüsieren, ohne sie ausführen
zu müssen.
So funktioniert auch der Slogan "Gegen falsche
Toleranz". Die Kriterien der "Richtigen Toleranz" bleiben
dabei völlig unklar, wir wissen also überhaupt nicht, wovon hier eigentlich die Rede
ist, aber es klingt nach einer Meinung. Nun wird kaum überraschen, daß diese Art der Orthodoxie
hier gegen Muslime geltend gemacht wurde, konkret gegen "junge muslimische
Männer" und generell gegen "Den Islam".
Ich war ziemlich überrascht, daß es in meinem Milieu noch
Klärungsbedarf gibt, was nun "Den Islam" angeht, welchen es
bekanntermaßen nicht gibt. Die weltweite Gemeinschaft der Muslime ist nämlich keine,
sondern vielfach auch eine erbitterte Gegnerschaft. Sie wird auf insgesamt mehr als
eineinhalb Milliarden (!) Menschen geschätzt, unter denen sehr viele unterschiedliche
Deutungen und Denkschulen wirksam sind.
Schloß Hainfeld bei Feldbach
Ich denke daher, daß Muslime in unserem Land nicht auf
Toleranz angewiesen sind, denn unser Grundgesetz ist in Fragen der
Religionsfreiheit ebenso unmißverständlich wie die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte. Jenseits davon sind unsere wesentlichen sozialen Konventionen gut
darstellbar, ist unsere Gesetzeslage vermutlich hinreichend, um allfällige Konfliktlagen
zu regeln.
Wer also dagegen verstößt, ganz egal ob muslimisch oder
nicht, wird Konsequenzen zu tragen haben. Dazu kommt, daß wir -- soweit mir bekannt --
keine ethnisch differenzierte Rechtssprechung haben und sich hierzulande eine
"Mehrheitsgesellschaft" in den Sitten für normativ hält. Ich wüßte nicht,
welche Art Verschärfung von Sanktionen dazu nötig wäre.
Angesichts dessen erscheint klärungsbedürftig, welches "Toleranzpaket"
als "richtig" gelten darf und was dem gegenüber "Falsche
Toleranz" sei. Die Frage ist rhetorisch, denn das ist natürlich bloß
küchenpolitisches Karaoke. Ich stieß in der genannten Debatte auch auf das treuherzige
Statement: "Im Übrigen lehne ich jede Form von Religion, insbesondere die
Buchreligionen, die nichts weiter als Männerreligionen sind, völlig ab! Es lebe der
Atheismus!!!" Das hätte einen zu anderen Zeiten bei uns das Leben kosten
können, heute ist diese Position natürlich auch vom Prinzip der
Religionsfreiheit gedeckt.
Das eigentlich Interessante daran ist ja die implizite
Phantasie von einem möglichen Handeln, das NICHT theoriegeleitet wäre, auf daß man also
ein Lebenskonzept haben könnte, welches nicht ideologisch geprägt sei. Freilich
führt auch der Atheist ein Leben mit Ideologie, also mit Ideengeschichte,
und seien es bloß die eigenen Ideen, die ja, wie sich zeigt, manchmal etwas mager
ausfallen können. Wollte demnach der Atheist gegenüber dem Moslem die Position der "Richtigen
Toleranz" beanspruchen, stünde so bloß ein ideologisches Konzept in
Konkurrenz zum anderen. Das sagt also noch gar nichts.
Die eigentliche Herausforderung in so einer Situation liegt
dann zum Beispiel im Bemühen, keine alten, eurozentristischen Muster zu reproduzieren.
Wir haben heute keinerlei Unklarheiten darüber, wie es ging und was es bewirkte, als
europäische Deutungseliten sich anmaßten, ihre Annahmen, ihre Welt- und Menschenbilder
für universell zu halten, um dann alle anderen Konzepte mit dem Etikett der
Inferiorität zu versehen. (Geschieht das schon wieder?)
Derlei hat auch seine Anteile des Rassismus und es ist mir
unbegreiflich, wie zum Beispiel steirische Schriftsteller, denen man ein Mindestmaß an
Reflexionsvermögen zutrauen möchte, sich in der gegenwärtigen Weltverfassung solche
Verkürzungen leisten können. Ich komme auf Dzevad Karahasan zurück, den ich gestern zitiert habe: "Aber wenn die
Intellektuellen, wenn die Werteproduzenten, wenn die Leute, die Wertbegriffe,
Wertvorstellungen schaffen, wenn Deutungseliten nach Vereinfachungen greifen, ist der
Teufel los.
Ich hatte mich mit ihm auch über den Diplomaten und Autor
Joseph von Hammer-Purgstall unterhalten, der für Jahre einen Wohnsitz in der
Oststeiermark nützte. In Schloß Hainfeld war ich mehrmals zugange gewesen. Es stand
einige Zeit für kulturelle Vorhaben offen.
Hammers literarische Übersetzungen sind ebenso bedeutend
wie vor allem auch seine große "Geschichte des Osmanischen Reiches".
Am Beispiel dieser Arbeit hat mir Karahasan etwas sehr Wesentliches deutlich gemacht,
nämlich die Beachtung der Trennschärfe zwischen ideologischen, politischen und
kulturellen Kategorien. Nach meinen Notizen sagte Karahasan zu diesem umfangreichen
Geschichtswerk:
Gute Literatur, weil wirklich gut geschrieben,
mit tiefgreifender Kenntnis des alltäglichen Lebens in Bosnien. Der Mann hat islamische
Literatur, Philosophie, Religion recht gut gekannt. Was ich an seiner Geschichte des
Osmanenreiches sehr spannend finde, und sehr wahr, ist, daß er ideologisch
selbstverständlich den Islam ablehnt. Gleichzeitig aber die Kultur, von der er schreibt,
sehr gut kennt und offensichtlich liebt. [...] Für mich ist eben Literatur, Kultur ein
System, vermittelt von Instrumenten, die es uns möglich machen, die bloße Identität mit
sich selbst immer aufs neue in Frage zu stellen."
Ich hebe den für diesen Eintrag wesentlichen Satz hervor,
daß also Hammer "ideologisch selbstverständlich den Islam ablehnt. Gleichzeitig
aber die Kultur, von der er schreibt, sehr gut kennt und offensichtlich liebt."
Hammer wurde 1774 in Graz geboren, hat eine Weile nahe
Feldbach gewohnt. Ich darf ihn daher einen steirischen Autor nennen, der für uns
eine Markierung gesetzt hat, wie Autoren mit intellektueller Selbstachtung sich dem Thema
annähern könnten. Dabei wird man vor allem eine Bedingung besser nicht ignorieren, daß
man sich nämlich in der Materie wenigstens ein bißchen sachkundig macht und auf Floskeln
vom Boulevard verzichtet, um eine Sache zu Benennen. Weshalb sollte man sonst seine
Ansichten publizieren?
-- [Kunstsymposion 2017:
Koexistenz] -- |