17. Juni 2017 Pierre-Henry
Salfati schrieb gemeinsam mit Alexander Schuller den Roman "Der letzte
Mentsch", den er vor einigen Jahren mit Mario Adorf in der Hauptrolle verfilmt
hat: [link] Marcus
Schwarz, der eigentlich Menachem Teitelbaum heißt, ist als einziger
Holocaust-Überlebender seiner Familie auf der Suche nach einem Zeugnis für seine
ursprüngliche Identität, damit er als Jude anerkannt wird, um auf einem jüdischen
Friedhof begraben werden zu können.
Die junge Deutschtürkin Gül (Katharina Derr) fährt ihn
auf einer letzten Reise, von der er nicht zurückkehren wird, in das Dorf seiner Herkunft.
Ich bin von solchen Geschichten immer noch verstört, weil meine Leute keine Mitläufer
waren, sondern Täter. Es hat in meiner Familie nie ein Wort des Bedauerns gegeben, das
mein Ohr erreicht hätte. Nichts. Nur Schweigen.
Ich weiß heute, es hätte selbst ein wortloser Ausdruck
von Scham genügt, und sei es bloß für einen Moment, damit anschließend alles ein wenig
anders wird. Bloß eine Nuance. Aber es hat kein solches Zeichen gegeben. Dieses Verhalten
und seine Konsequenzen gehört zu den Gründen, warum ich meine Herkunftsfamilie eines
Tages völlig aus meinem Leben ausgeschlossen hab.
Es ist die Doppelbödigkeit solcher Existenzen und ihrer
Ansichten, ihrer Handlungsweisen, die alles korrumpiert, was damit in Berührung kommt und
diesem Lebenskonzept längere Zeit ausgesetzt bleibt.
Ich hab in all den Jahren immer wieder mit großer Neugier
exponierten Menschen gelauscht, die der Welt zeigten, wie diese Art der Korruption
vonstatten geht, wie sie klingt, welche Gesichtsausdrücke sie produziert. Eben kam mir
dieser Zeitungsausschnitt mit dem Hinweis auf Brunhilde Pomsel in die Hände. Die
Sekretärin von Goebbels gab sich in einem Ausmaß unwissend, das atemberaubend ist.
Ähnlich staunenswert sind verfügbare Interviews mit der
Fliegerin Hanna Reitsch oder mit Regisseurin Leni Riefenstahl. Luis Trenker hat über sein
Leben zu jener Zeit so sensationell schwadroniert, daß man glauben möchte, es sei an
seinem Gehirn ein chirurgischer Eingriff vorgenommen worden. Gustav Gründgens erstickt
einen fast mit seiner Selbstergriffenheit und Arroganz, die über alles Gewesene
hinweggleitet.
Solche Doppelbödigkeit war also recht populär und hat
ihre Wirkmächtigkeit bis heute nicht verloren. Ich mußte sie loswerden, quasi von meinem
Leben herunterschlagen, wie man mit einem passenden Hammer alte Fliesen von einer Wand
haut.
Manchmal neige ich zu etwas pathetischen Gesten. Daher
hatte ich meinem Bruder vor Jahren im Abgesang eines letzten Verständigungsschrittes
bezüglich meiner Mutter, auch ihn selbst betreffend, gesagt: "Und wenn ihr zu
beerdigen seid, will ich es nicht wissen."
Aber er tendiert wohl ebenso zu pathetischen Posen.
Offenbar konnte er nicht anders. Am 27. Januar 2013 ging um 10:36 Uhr seine Email an mich
ab, um mich wissen zu lassen: "Hallo Martin Unsere Mutter ist gerade gestorben
Von meinem iPhone gesendet". Was für ein launiges Schicksal! Was für ein Datum!
Am 27. Januar 1945 hatten Mannschaften der 322. Infanteriedivision der I. Ukrainischen
Front die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vollendet.
Gestern habe ich mich mit einer neuen Kamera vertraut
gemacht, kleiner als vorherige, sehr smarte Benutzerführung, dabei eine kuriose
Kombination von mechanischen und elektronischen Funktionen. Bei diesem Testlauf und der
Durchsicht gemachter Fotos fiel mir unter anderem auf: hier steckt "Die
Reiterarmee" von Isaak Babel im Stapel.
Babel hat so seine Erlebnisse aus dem russisch-polnischen
Krieg von 1920 verarbeitet. Er war mit den Kosaken des General Budjonny unterwegs gewesen,
wurde Augenzeuge deren Massaker an Juden. Ich hatte mir das jüngst durchgesehen, weil mit
dem Ersten Weltkrieg der "Kentaurische Pakt" zu Ende ging, also die
mehrere Jahrtausende währende Vorrangstellung des Pferdes als bedeutendste Tempomaschine
der Menschen.
Babels Schilderungen dürften der letzte authentische
Bericht über eine Reiterarmee sein. Aber darin eben auch die Schilderungen der
Greuel durch die Kosaken. Darauf bezieht sich sehr wahrscheinlich eine kleine Szene in der
vierten Episode der Dritten Staffel von "Peaky Blinders
Gangs of Birmingham ".
Juwelier Alfie Solomons (Tom Hardy) soll bei adeligen
Immigranten aus der Ukraine Juwelen und Schmuck bewerten, die Thomas Shelby (Cillian
Murphy) für einen zwielichtigen Handel haben möchte. Als sie das Anwesen der
Aristokraten betreten, ist der Zugang von Kosaken gesäumt, die den reichen Leuten als
Wachmannschaft dienen. Einen davon bellt Alfie Solomons an, man würde sich kennen, denn
sie hätten seine Großmutter umgebracht.
Wohin wir uns auch wenden, aus allen Ecken, Ritzen und
Schubladen quellen Details des 20. Jahrhunderts. Auf eigentümliche Art sind wir von all
den vergossenen Tränen durchnäßt und haben die Wahl, um nächste Bedingungen zu ringen.
Nichts ist vergebens. Alles hat Konsequenzen.
..-- [Kunstsymposion:
Krusches Part] -- |