2. April 2017

Die Simulation von Sinn, eine populäre Methode, um die Risken eines Lebens zu minimieren. Ist das so? Löst sich das ein? Welche inneren Gefahrenquellen können einem die Fundamente weghauen? Wie hart schlägt man auf, wenn das passiert?

Eines meiner Lieblingsmotive in der Kunstpraxis lautet: Wir erzählen einander die Welt. Das bedeutet ja immer auch: Wir erzählen uns einander. Gibt es noch andere Realitäten als das, was wir einander erzählen?

In der Kunst hat das gewöhnlich keine vergleichbaren Konsequenzen wie in der Politik. Wir. Wir. Wir. Wovon ist da eigentlich die Rede? Ich kann mich nicht darauf einlassen, gängigen Nationalkitsch als brauchbaren Hinweis auf diese Republik hinzunehmen.

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Gestern hatte das KulturBüro Stainz (KBS) wieder zu einer Walking Conference geladen, die diesmal -- wie passend -- dem Thema Gehen gewidmet war; [link] Dabei bestand eine Querverbindung zum Thema Mythos Puch, was wiederum zum vorigen Logbuch-Eintrag paßt. Ich hatte eine Notiz darüber angebracht, wie ich den Kopf aus dem Seitenfenster eines Mercedes G 63 AMG 6x6 stecke. Dafür war eine etwas dürftig formulierte Rüge mit Hinweis auf die Natur zu kassieren. (Flüchtige Empörungsgymnastik. Wenn schon, dann bitte kräftig und mitten auf die Zwölf!)

In eben dieser Natur, die bei uns hauptsächlich Kulturlandschaft ist, also bebautes, umfassend bewirtschaftetes, gestaltetes Terrain, gezähmte Natur, den menschlichen Expansionswünschen gefügig gemacht, gibt es auf dem Land viel von dem, was KBS-Initiatorin Ursula Glaeser mit besonderem Interesse verfolgt, betrachtet, reflektiert. Wegkreuze und Bildstöcke, die wir Marterl nennen.

Mythos wird in den öffentlichen Raum geschrieben. Das finde ich ja sehr interessant; zumal für unsere aktuellen Fragen nach den Zusammenhängen zwischen Volkskultur, Pop und Gegenwartskunst solche Motive recht aufschlußreich sind.

Ich habe gestern überdies das Wettrennen auf dem Boulevard erwähnt. Wer bindet die größte Leserschaft an sein Blatt? Mit welchen Mitteln geschieht das? (Krone: 980.000, Kleine: 853.000, na so viel ist das nicht um.) Und was ist denn das überhaupt, der Boulevard?

Ich nehme an, die Geschichte des Boulevards hat ihren Anfang im Mittelalter und ist in der Biblia pauperum begründet. Nicht einmal die Fürsten waren alle lesekundig, selbst wenn sie Bibliotheken besaßen. Die einfärbigen oder bunten Blätter der Armenbibeln machten es möglich, den Menschen Inhalte zu vermitteln, ohne ihnen das Lesen beizubringen.

Eine gute Nachricht? Wenn ich es recht verstanden habe, war es ein wesentliches Anliegen der Protestanten, daß die Menschen selbst in der Bibel lesen konnten, was enorme soziale, kulturelle und politische Konsequenzen hatte. Wie ernst die Herrschenden das nahmen und Literarität des Volkes wohl eher als Problem, denn als Segen sahen, illustriert die blutige Gegenreformation.

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Ausschnitt aus einer Biblia pauperum um 1455, Blockdruck

Der historische Übergang von Mythos zu Logos war also kein Programm für ein Massenpublikum. Genau das rührt mich andrerseits so sehr an den Werken, die Volksfrömmigkeit darstellen, wie eben manche Wegkreuze, Bildstöcke und ganz speziell Votivbilder: Der Wunsch, das auszudrücken, wofür man keine elaborierte Sprache hat.

Man wird erahnen, in welchen Traditionen stehend wir hier erzählen, eben auch auf visueller Ebene. Ich hab im gestrigen Eintrag Graphic Novelist Chris Scheuer erwähnt. Der paßt natürlich zu diesen Erörterungen, zumal er sich quasi als legitimen Urenkel von Albrecht Dürer sieht, denn das macht sie wohl beide aus: manisches Zeichnen.

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Votivbilder im Rundgang der Gnadenkapelle in Altötting. (Foto: Walter J. Pilsak)

Nun muß das weitergedacht werden, wie einen dieser oder jener Lauf der Dinge in zufällige Momente stürzt; und dann sowas! Spät nachmittags ein Kleiner Brauner im Stainzer Cafe Lex: [link] Daran kann einen erfreuen, daß er vorzüglich schmeckt, was in Kaffeehäusern längst nicht mehr vorausgesetzt werden darf.

Aber dann das Innere des Cafés, ein Ort der Gegenwartskunst, teilweise mit den Stadthallenstühlen von Roland Rainer ausgestattet.   Und das bedeutet, ein Ort raffinierter Kommunikationsangebote, denn es ist ja nicht nur dieser sinnliche Zugang zu Werken möglich: "Gefällt mir/gefällt mir nicht", sondern eine langjährige Befassung mit Kunst stürzt einen in merkwürdig grenzenlose Koordinatensysteme und in Wahrnehmungserfahrungen, die einen elegant über ethnische oder ideologische Grenzbauten hinwegsteigen lassen.

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Ursula Glaeser und Franz Lex in der besonderen Stube

Genau das ist zum Beispiel den Vaterländischen so sehr ein Gräuel und läßt sie gerne von "Eliten", von "Abgehobenheit" und Arroganz der Anderen reden. Wir ärgerlich diese Weltsichten doch sind, die jeder eng gehaltenen Ideologie spotten

Davon werde ich hier noch erzählen, da gefragt werden muß: Sollte ich annehmen, daß vor ein paar hundert Jahren jemand sagte "Ich bin stolz, Österreicher zu sein!" und das auch so empfand? (Das ist ganz unwahrscheinlich.)

Unser Gang warf noch ein paar andere Fragen auf. Das ergab sich etwa durch eine Kuriosität, von der ich dachte, sie sei ein Werbeträger für das Naturmuseum Stainz. Irrtum! Die Giraffe im Glashaus steht da als Teil einer eigenständigen Installation, über die sich vor Ort kaum etwas erfahren ließ. Gerhard Pilz (StainZeit) wußte zu erzählen, daß diese Arbeit in einer ursprünglichen Zuständigkeit von Rotor und Kunst im öffentlichen Raum stand. Das hilft bei der Suche: Eine Arbeit von Helmut Dick, als Intervention deklariert: [link]

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Gerhard Pilz, Ursula Glaeser und Conny Purr

Nun ist Jahre nach dem Enden ursprünglicher Vereinbarungen unklar, ob diese Intervention ihrerseits mit einer Intervention belegt, also allenfalls verändert werden darf, oder ob das damals " irritierendste der Konzepte" in seiner Umsetzung bleiben muß, wie es war, auch wenn die Irritation von einst verflogen sein könnte. Gesamt rührt das auch an Fragen, wer den öffentlichen Raum womit bespielen darf und wodurch jemand dazu legitimiert wird, falls denn dazu überhaupt Legitimation nötig ist.

Das verweist überdies auf die Befindlichkeit von Öffentlichem Raum als politischem Raum, der grundsätzlich und im besten Fall ein Gemeingut wie eine Allmende wäre, denn genau das ist ja idealtypisch das primäre Terrain für diese Teilnahme eines ganzen Staatsvolkes am öffentlichen sozialen, politischen und kulturellen Leben... Übrigens, so weit das der Straßenverkehr zuläßt. Ein Streitthema von enormer sozialer Sprengkraft, seit Automobile vor rund hundert Jahren auf unseren Straßen aufgetaucht sind. (Ein Querverweis auf Mythos Puch.)

-- [Doku: Gehen] --

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