12. Dezember 2016

Es waren Texte der Frauenbewegungen aus den 1970er Jahren, von denen ich die Anregung bezog, das Private sei politisch. Das ist mit Autorinnen wie Kate Millett verbunden. Noch einmal zum Mitschreiben: Das Private ist politisch.

Das heißt auch, Frauen haben mich darauf hingewiesen, wie diskussionswürdig die Annahme ist, die ich etwa von meinen Eltern kannte, daß nämlich Familienangelegenheiten in den "Vier Wänden" zu verbleiben hätten. Im Rückblick wurde mir natürlich klar, was alles an Schandtaten auf solche Art verschleiert sein möchte.

Aber auch das Banale ist aufschlußeich. Ein Beispiel. Das mütterliche Aviso vom April 1956 besagte, meine Schreien werde noch kurz berücksichtigt, solle aber ab drei Kilo Lebensgewicht nicht mehr beachtet werden. Da stand ich, wie die Aufzeichnungen besagen, gerade bei 2,31 Kilo, war also noch einigermaßen handlich.

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Diese Handlichkeit verlor sich über die Jahre. Die Erfahrung, daß Schreien nichts nützt, hat sich vielfach bestätigt. Ich halte für möglich, daß darin ein wesentlicher Anstoß lag, andere Kommunikationskanäle zu forcieren. Man könnte in polemischer Verkürzung daraus folgern, daß mir die erbärmlichen pädagogischen Konzepte jener Tage ein paar Wege in die Kunstpraxis gewiesen haben.

Damit wir uns recht verstehen, ich gehöre nicht zu jenen verhaltensoriginellen Ex-Kindern, die sich deshalb in eine Schicksalsergebenheit dreinfinden und sich womöglich zur Dankbarkeit für die Hiebe versteigen, denen damals kein Schamgefühl Erwachsener im Wege stand. Ganz im Gegenteil. Ich bin äußerst unversöhnlich, was jene Verächtlichkeit angeht, die Erwachsene den Kindern aufgebürdet haben. Da gibt es für mich keine Verjährung.

Ich stieß kürzlich wieder auf eines dieser Motive. In einer Diskussionsrunde betonte eine Expertin für Menschenhandel, daß die Bordelle des wohlhabenden Teils Europas auch mit kleinen Mädchen beliefert werden, die zu retten so schwierig sei, weil sie mitunter vor dem Erreichen des zwölften Lebensjahres "so viele Schwänze gesehen haben".

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Es tut sich allerhand innerhalb von vier Wänden, hinter verschlossenen Türen, was dieser Gesellschaft zum ständigen makel wird. Beim Kramen in Kindheitserinnerungen und Gedanken an verflogene Jahrzehnte hatte ich jüngst wieder einige Gründe, über die angeblich hochgehaltenen Werte unserer Kultur nachzudenken. Behauptungen zu diesem Thema müssen sich ja an den Schandtaten unserer Leute messen lassen, über die Evidenz besteht.

Auslöser für solche Überlegungen war unter anderem jener Abend, da ich mit Graphic Novelist Chris Scheuer in der Kanzley auf Schloß Freiberg ein halbes Jahrtausend Mediengeschichte durchgenommen hatte: [link]

Seither wühle ich in vergessenen Kisten. Bei diesen Betrachtungen war mir eben diese alte Kamera ein Referenzpunkt. Eine Kodak Retina, wie sie 1951 auf den Markt kam und in den 1960ern zu meinem ersten Photoapparat wurde. Die Abfolge weiterer Modelle illustriert den Übergang von der Zweiten zur Dritten Industriellen Revolution, wie ich es hier skizziert hab: "Vorgeschichte konkret, Kamera" [link]

Aber meines Reminiszenzen, bei denen ich nicht zur Nostalgie neige, schrammten an einer anderen Themenstellung entlang. Die Trennung von Kirche und Staat ist in dieser Republik manchen offenbar ein Ärgernis. Da behauptet ein Gewerkschafter namens Franz Gosch: "Das Kreuz ist fürs Land nicht nur religiöses Symbol, sondern Zeichen für Werte und Traditionen."

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Quelle: Woche Weiz, 1.12.2016

Publizist Roland Reischl verzichtet in diesem Text darauf, zu berichten, welche Werte und welche Traditionen damit gemeint seien, worin genau die Autorität von Männern wie dem Arbeiterkammer-Vizepräsident Gosch bestünde, um ein solches Ansinnen zu legitimieren.

Ich laß mich ja gerne überzeugen. Wie lauten die Argumente? Was genau sind denn die Werte, denen sich der exponierte Christ verpflichtet fühlt? Gosch sagt: "Den spürbaren Bestrebungen die christlichen Werte zurückzudrängen, ist ein klarer Riegel vorzuschieben." [Quelle]

Im Mai des Vorjahres ließ ich mir das in der Lektüre von Ansichten des Althistorikers Egon Flaig darlegen. Der kann unsere kulturellen Wurzeln nicht vorrangig im Christentum finden, sondern in der Antike.

Da hieß es: "Der Kern der europäischen Identität besteht aus drei Komponenten: Demokratie, direkt oder repräsentativ, Menschenrechte und ihre universale Gültigkeit und Wissenschaft als Instanz zur Klärung von Wahrheitsfragen außerhalb des Religiösen." Siehe den Eintrag vom 25.5.2015: [link]

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Quelle: Der Standard, 18.5.15

Ich möchte davon ausgehen, daß sich Funktionstragende aus Politik und Verwaltung im Anlaßfall auf den aktuellen Stand der Diskurse zur Geschichte des Abendlandes einlassen müssen und nicht einfach dahinbehaupten können, was ihnen gerade zusagt.

Ich hätte keinen Einwand, verschiedene Konzepte nebeneinander gedeihen zu sehen. Man muß sie mir bloß verdeutlichen. Posch mag seiner bevorzugten Deutung anhängen. Ich berufe mich jetzt einmal auf Flaig und seine "Landmarken für die westlich-europäische Kultur", die er mit sechs Punkten nennt:
1) dauerhafte Vorrang der Wissenschaft in Wahrheitsfragen,
2) die Autonomisierung des politischen Raums unabhängig von der Religion mit den Idealen
    von Freiheit und bürgerlicher Gleichheit, garantiert von menschengemachten Verfassungen,
3) die radikale Abschaffung der Sklaverei und deren prinzipielle Bekämpfung weltweit,
4) die ständige Selbstkritik,
5) die Fähigkeit, sich schuldig zu fühlen gegenüber anderen Kulturen, das heißt der Gedanke
    einer universalen, kulturüberspannenden Gerechtigkeit,
6) und das "Allinteresse" für andere Kulturen und deren Eigenarten.

Das scheint mir auch sehr brauchbar, wo es rundum von einem "postfaktischen Zeitalter" tönt, was mir begrifflich nicht einleuchtet, da wir eigentlich von kontrafaktischen Ansichten zu reden hätten, die sich ihrerseits bemühen, als Fakten durchzugehen.

Wer demnach alles Lüge nennt, was den eigenen Ansichten widerspricht, wird sich eventuell an den Werten des Abendlandes messen lassen müssen. Das Interview mit Egon Flaig befindet sich online hier: [link] Siehe zum Thema "Werte des Abendlandes" auch: [link]

Ich denke, wir werden in der Sache nicht umhinkommen, etwas präziser zu werden, falls wir auf Konfrontation gehen wollen. Oder es genügt, einen zivilisierten Austausch von Meinungen, Auffassungen zu pflegen, wie er laufend geschehen sollte...

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