25. Mai 2015 Ich
dümple durch das 20. Jahrhundert. Zwischendurch kleine Ausreißer. In der Renaissance
haben Fürsten die Kunst bemüht, ihre Machtansprüche auszudrücken. Das brachte, wie ich
gestern am Beispiel Brunelleschi erwähnt hab,
außergewöhnliche Leistungen hervor.
Aus der Renaissance haben wir aber auch die Vorstellung
bezogen, daß die Kunst solcher Befrachtung nicht bedürfe und sich selbst der eigentliche
Auftrag sei. Das meint Autonomie: Sich selbst die Regeln geben. Na, die Praxis zeigt sich
dabei viel salopper.
Aber damit möchte ich mich augenblicklich gar nicht
aufhalten. Gechichtsbetrachtung ergibt sich für mich derzeit nicht nur in diesen
europäischen Dimensionen. Auch meine Wohnung wirft Fragen nach historischen
Zusammenhängen auf. Zeitlich kleinräumiger, versteht sich.
Ich bin mit dem Abtragen von Sedimenten befaßt, mit dem
Verräumen von Artefakten, die aus jüngeren Projekten liegengeblieben sind. Ich bin auch
mit dem Wegwerfen von Dingen befaßt und die Waschmaschine läuft permanent im
Hintergrund. Gut, volkstümich ausgedrückt heißt das: Endlich einmal aufräumen.
Es ist gewissermaßen ein archäologische Unternehmen, in
dem ich ein Stück trivialen Alltag im vertrauten Lebensraum wieder freizulegen versuche.
So kann es nämlich nicht immer gehen, diese Dimensionen "1914 bis 2014", aber
eigentlich mehr noch "1814 bis 2014", denn ab dem Wiener Kongress
hat sich stark herausgebildet, was uns heute ausmacht. Dieses Heute, dieses Europa, diese
meine Wohnung...
Mittags ließ ich meinen bevorzugten Wirt für mich kochen,
um dem Transitions-Chaos etwas zu entkommen. Ich blätterte eine Zeitung durch und glaubte
plötzlich meinen Augen nicht zu trauen. Wer hat dem ÖVP-Exponenten Hermann
Schützenhofer bloß diese fast geniale Idee nahegelegt? Was für ein Treffer!
Quelle: Kleine Zeitung, 24.5.15
Da waren ja eben erst Gemeinderatswahlen, begleitet von
einer Kaskade erlesener Blödheiten, die fast ausschließlich von Spindoctor Feelgood
stammten und auf absolut obszöne Art eine Zukunft in der Komfortzone andeuteten.
Es kann, so hoffe ich inbrünstig, nur eine Frage der Zeit sein, bis dem Gros der Menschen
ob solcher Unverfrorenheit hin alle Fäden reißen.
Ich möchte dem politischen Personal manchmal dieses
unerträgliche Gewäsch mit der Faust in den Rachen zurückschieben, weil es ungenierten
Ohrfeigen gleichkommt, meine Intelligenz mit solchen Polemiken zu beleidigen.
Bevor ich mich hier völlig in Hitze schreibe und mein
Verstand in den Graben fährt: Schluß damit! Was es zum gehabten Gemeinderatswahlkampf zu
sagen gab, hab ich hier in etlichen Beiträgen unter dem Stichwort Wahlen
zusammengefaßt: [link] Es war
eine umfassende Spitzenleistung des Nichtssagenden.
Nun also dieser herausragende Wahlkampf-Slogan zum Landtag,
durch den sich Schützenhöfer zugleich verschmitzt mit einem bedeutenden historischen
Politiker assoziiert. "Blut, Schweiß und Tränen"... klingelt was?
13 Mai 1940. Winston Churchill hielt im Parlament seine
Antrittsrede als Premierminister und sagte dabei: "I have nothing to offer but
blood, toil, tears and sweat." [Quelle]
Unter dem Druck des tobenden Krieges war er nicht bereit,
etwas schönzureden, sondern sagte seinen Leuten direkt wie unmißverständlich: "Ich
habe nichts zu bieten außer Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß". Davon ist ein
Tondokument erhalten; der Satz kommt etwa ab Minute 3:30 vor: [link]
Vielleicht möchten sich manche aus den Reihen des
politischen Personals davon anregen lassen, uns in Zukunft einfach mitzuteilen, was sie
konkret TUN werden, anstatt uns mit ihren feuchten Träumen zu behelligen und uns mit all
dem Agentur-Geträller die Sinne zu verkleben.
Derweil war ich noch in einer anderen Frage fündig. Ich
finde ja ebenso dümmlich wie provokant, daß mir inzwischen jeder Depp etwas von den "Werten
des Abendlandes" daherkräht, in Österreich auch vorzugsweise die Version "Christliche
Werte des Abendlandes" oder die Variante "Werten des christlichen
Abendlandes".
Quelle: Der Standard, 18.5.15
Aber ich kann mich dumm und deppert fragen, ich bekomm
praktisch keine plausiblen, zusammenhängenden Antworten, wenn ich erfahren möchte, was
denn damit eigentlich gemeint sei. Althistoriker Egon Flaig war nun so freundlich, ein
paar klare Aussagen zur Debatte zu stellen.
Flaig geht von folgenden zentralen Kategorien aus:
"Der Kern der europäischen Identität besteht aus drei Komponenten: Demokratie,
direkt oder repräsentativ, Menschenrechte und ihre universale Gültigkeit und
Wissenschaft als Instanz zur Klärung von Wahrheitsfragen außerhalb des
Religiösen."
Dazu kommt ein prägnantes kulturpolitisches Statement:
"In jeder Kultur müssen Menschen sich orientieren, um handeln zu können. Dazu
brauchen sie moralische und auch politische Maßstäbe. Vor allem aber benötigen sie ein
kulturelles Gedächtnis, das ihnen sagt, warum diese Maßstäbe wichtig sind."
Flaig betont: "Zukunft braucht Herkunft."
Das ist hier unmißverständlich als KULTURELLE und nicht BIOLOGISCHE Kategorie zu
verstehen.
Auf die Frage, welche "Landmarken für die
westlich-europäische Kultur" er für wesentlich hält, nennt er sechs Punkte:
1) dauerhafte Vorrang der Wissenschaft in Wahrheitsfragen,
2) die Autonomisierung des politischen Raums unabhängig von der Religion mit den Idealen
von Freiheit und bürgerlicher Gleichheit, garantiert von
menschengemachten Verfassungen,
3) die radikale Abschaffung der Sklaverei und deren prinzipielle Bekämpfung weltweit,
4) die ständige Selbstkritik,
5) die Fähigkeit, sich schuldig zu fühlen gegenüber anderen Kulturen, das heißt der
Gedanke
einer universalen, kulturüberspannenden Gerechtigkeit,
6) und das "Allinteresse" für andere Kulturen und deren Eigenarten.
Man wird gewiß in laufenden Debatten zu anderen Reihungen
und Gewichtungen kommen können, aber ich halte das für einen sehr nützlichen
Ausgangspunkt von Überlegungen, egal, ob man mit sehr konservativen und/oder
vaterländischen Formationen in Diskussion gerät, ob mit jungen, himmelsstürmerischen
Gruppierungen, so kann eine "Wertediskussion" zur Abwechslung konkret
werden und sich dann beliebig entfalten.
Die Quelle, ein Interview, das Lisa
Nimmervoll führte, ist hier online: [link]
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