17. November 2016

Mit dem gestrigen Eintrag ist der Auftakt zum 2017er Kunstsymposion gesetzt. Das ist stets Work in Progress. Allerdings sollte es kommendes Jahr wieder merklich kompakter hergehen als heuer. Die Koexistenz bleibt das bestimmende Thema. Das ist die Grundsituation für die kommenden Jahre.

Man könnte sagen, wir müssen uns an neue Verhältnisse gewöhnen, in denen der alte Eurozentrismus nicht mehr zum Zug kommt. Europa, sicherheitspolitisch ein Protektorat der USA und geopolitisch ein feiner Garten am Rande des riesigen eurasischen Kontinents. In seiner globalen Bedeutung zunehmend eine Randerscheuinung. Hab ich was übersehen?

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Ich bin nach wie vor mit dem Zeitfenster 1814-1914-2014 befaßt. Zweihundert Jahre der permanenten technischen Revolutionen, der ständigen Beschleunigung. Aber auch dieser erschütternde Abgesang, zu dem ich jüngst mehrfach von Stümperei gesprochen hab. Das wurde mir von manchen Menschen als Polemik ausgelegt. Ist es so?

Max Frisch soll gesagt haben, früher oder später erfinde jeder eine Geschichte, die er für sein Leben hält. Das ist eine sehr interessante Annahme über persönliche und kollektive Deutungen, die von manchen Menschen ja auch per Anspruch auf Definitionsmacht über die Ansichten anderer gestellt werden. Ist der Begriff "Selbstbeweihräucherung" noch in Gebrauch?

Solche gedanklichen Rauchschwaden können einem Tränen verursachen, die man womöglich für Tränen der Rührung hält. Historiker Philipp Blom („Der taumelnde Kontinent") ist der Meinung, Europa solle achten, nicht völlig an Bedeutung zu verlieren, zu einem Museum zu verkommen, wo wir davon leben würden, Reisenden Eintrittskarten zu verkaufen.

Bedeutung. Damit meint er natürlich keine Empfehlung zum säbelrasselnden Aggressor zu werden. Es gibt eine ganze Reihe sozialer, politischer und kultureller Kompetenzen, über deren weitere Entwicklung sich Europa hervortun könnte.

1914-2014. Blom sagt übrigens auch, es wäre im Blick auf das 20. Jahrhundert von Europas „Zweitem Dreißigjährigem Krieg" zu sprechen. Das kommt nicht bloß bezüglich der Dauer hin, sondern auch bezüglich der traumatisierenden Nachwirkungen.

Zum Jubel, mit dem anno 1914 in den Krieg gezogen wurde, betont er, das seien die Texte junger Akademiker gewesen, bestenfalls fünf Prozent der Bevölkerung, keinesfalls repräsentativ, aber eben aufgrund der klaren Quellenlage in unserem Blickfeld.

Blom: „Es war nicht einhellige Begeisterung." Und deshalb unsere bewährte Kultur, das zu bemänteln. Dieses Getue um die "Helden". Die verlogenen Denkmäler, welche Mahnmal sein möchten, dann daber doch nicht unser Denken anregen sollten...

Blom sagt ferner: „Auch im Juni 1914 hat noch niemand gewußt, daß es einen Weltkrieg geben wird." Er spricht von Fatalismus. Die Moderne sei nach Ansicht mancher Menschen damals so verrottet gewesen, daß es ein „reinigendes Gewitter" bräuchte.

Der Wissenschafter sagt ferner, es wäre die Front, vor allem die Westfront, „der modernste Ort" gewesen. Lauter Massenfertigung, alles hochtechnisiert, vor allem das Töten. Blom sagt, Geschichte sei das, was wir darüber schreiben. Schriftstücke!   Quellen. (Zu den einschlägigen Texten zähle ich natürlich auch die Inschriften von Denkmälern.)

Der Historiker drückt sich bezüglich der Einschätzung unserer Wegbereiter von 1914 dezent, zurückhaltend aus.

Er spricht nicht von Stümpern und Kanaillen, wie ich das tue, wenn ich von den Kaisern Franz Josef und Karl schreibe, von Aristokraten wie Conrad oder Potiorek, von dieser katastrophalen Kamarilla, die mit großer Sturheit so enormes Unglück angerichtet hat..

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"Jeder Mann ein Held": Kitsch aus der Monarchie anno 18. Juni 2016 (!)  in der Facebook-Gruppe "Österreich bleibt Rot Weiß Rot"

Blom betont Europas schlechte Herrscher, die zutiefst mittelmäßigen Aristokraten jener Zeit. Beharrliche Leute, die Veränderungen verhindern wollten. Blom: „Veränderung läßt sich nicht verhindern, Veränderung geschieht." Man könne versuchen, sie entweder zu gestalten oder sich von ihr überwältigen lassen.

Und das verbindet uns heute eben auch mit jener Ära. Die spürbaren, gewaltigen Veränderungsschübe. Eine Verkommenheit in weiten Bereichen der Politik, daher auch viel Stillstand. Eine Comback des "Hurra-Patriotsmus". Viel Geblöke von Heimat, Volk und Kultur. Viel Geraune von einem "Europa der Vaterländer". Das bedeutet, es besteht eine Menge an Klärungsbedarf...

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