3. Juni 2016

Ich habe im gestrigen Eintrag notiert, daß über unsere "Heimat", unsere "Kultur", über das "Abendland" geredet werden muß, daß auch "Volkskultur" zur Debatte steht. Als Kind der Popkultur habe ich sowieso kein Problem, diese Themen und Genres mit anderen zusammenzudenken, denn das ist mein vorrangiges Bezugssystem, seit ich 1956 geboren wurde.

Als Jugendliche führten wir keine Diskurse, wie lebten das einfach unter Betreuung durch die Unterhaltungsindustrie. Wer wenigstens kurze Zeit ein Gymnasium von innen sah, staunte dann vielleicht über die Irritation, die Marcel Duchamp auslösen konnte. Malewitsch blieb suspekt, die Eltern führten halbherzige Kampagnen gegen "Schmutz und Schund". Ich begriff erst später den Witz dahinter. Ein vormaliges Publikum von Josef Goebbels versuchte recht energisch, uns die Comic-Hefte zu entreißen.

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Igor F.Petkovic wurde 20 Jahre nach mir geboren, gehört einer anderen Generation an, folgt einer völlig anderen Erzählung. Und dennoch haben wir Schnittpunkte in einigen historischen Daten und in den visuellen Codes des 20. Jahrhunderts.

Das Jahr 2014, als an 1914 zu denken war, aber auch an 1814 (Wiener Kongress), brachte uns ganz nebenbei ein paar kleine Debatten, ob denn Gavrilo Princip nun ein Freiheitskämpfer oder ein Terrorist gewesen sei. Diese Debatten verliefen in meinem Umfeld sehr schnell im Nichts. Zu viel Gegenwart, zu wenig Vorstellung von dieser Vergangenheit.

Ich halte die Fragestellung ja für nachrangig, weil sie die Legitimation eines Mordanschlages zur Diskussion stellt. Mord ist Mord. Aber mich interessieren in diesem Fall Motive und Zusammenhänge.

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Der ethnische Serbe lebte im ursprünglichen Kondominium Bosnien-Herzegovina, war also fast ein Österreicher. Diese Witz witzig zu finden setzt voraus, seine politischen Rahmenbedingungen zu kennen.

Bosnien und Herzegowina waren osmanische Provinzen. 1908 vereinbarte Österreich mit Rußland, daß die Annexion dieser Provinzen gebilligt werde, wenn Österreich dafür Rußland in anderen Gebietsfragen unterstützen werde.

Davor hatte schon 1878 der Berliner Kongress diese Ländereien unter österreichische Verwaltung gestellt. Fußnötchen: Österreich hatte 1897 in der "Badeni-Krise" (Sprachenstreit) deutlich gezeigt, daß deutsche Eliten auf andere Ethnien des Reiches nicht einzugehen gedachten.

Als Gavro Princip 1894 geboren wurde, wuchs er unter Bedingungen auf, die einem diese andere (deutsche) Ethnie als Okkupationsmacht erscheinen lassen konnten. Es ist uns eine Publikation erhalten, die den Zynismus und die Arroganz der Österreicher illustriert.

Der adelige Dr. Josef Neupauer hat 1884 seine Schrift "Viribus unitis: Wie könnte die europäische Cultur nach Bosnien verpflanzt werden?" veröffentlicht. Ich habe das 2014 schon einmal hervorgehoben: [link]

Sie finden hier auch einen kleinen Textauszug und einen Link zur downloadbaren PDF-Fassung des gesamten Buches: [link] Gehen Sie davon aus, daß belesene und politisch aktive Südslawen keinerlei Unklarheit hatten, was ihnen unter der habsburgischen Herrschaft blühen werde.

Viribus unitis, mit vereinten Kräften, war übrigens das persönliche Motto von Kaiser Franz Josef I. Das Buch also eine Anbiederung.

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Außerdem war nach den Balkankriegen gegen die Osmanen im Jahr 1912 völlig klar, daß auch andere europäische Mächte sich mit ihren Interessen in dieser Region gerne einrichten würden. Kleiner Einschub: Charlie Chaplin wurde 1889 geboren, gehört demnach der gleichen Generation an wie Princip.

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Wir haben das 2014 mit einem kleinen Double Feature in Gleisdorf thematisiert; siehe: [link] Die Aquarelle stammen vom bosnischen Maler Radenko Milak, rechts selbst auf dem Foto. Also Chaplin und Prinic. Den einen sahen wir als "Der große Diktator" (1940), der andere war unmittelbar nach seiner tat festgesetzt worden. Er bekam einen Prozeß, verbrachte noch einige Zeit unter großem Leiden in Haft, um da elend zu sterben, hat also mit allem, was ein Mensch noch geben könnte, gebüßt.

1814, 1914, 2014. Ich denke, wir sollten gerüstet sein, uns im Kräftespiel dieser 200 Jahre wenigstens halbwegs zu orientieren. Wir sollten einige Aussagen machen können, was denn dieses Land, seine Kultur und seine Geschichte; Aussagen, die einer Überprüfung standhalten.

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