21. Dezember 2015

Eine meiner Notizes dürfte aus einer Dialogsequenz in einem Film stammen: Es spricht durch seine Abwesenheit. Meine Assoziation besagt, hier sei von Kunst die Rede. Es könnte aber auch auf reformatorisches Denken bezogen gewesen sein. Bloß, in welchen Filmen käme die prinzipielle Unerkennbarkeit Gottes zur Sprache, wie das etwa Luther angenommen hat?

Uns macht die prinzipielle Erkennbarkeit von Sachverhalten schon sehr zu schaffen, wenn zum Beispiel vieles noch nicht gedacht werden kann oder auch gedacht werden will. Dazu paßt das Bonmot "Bis zur Kenntlichkeit entstellt".

Darin liegt ein bescheidener Hinweis, daß Unschärfe und das Vage große Klarheiten bergen können. Dazu passen Ursprünge dessen, was man sich unter Theorie oder einem Theoretiker vorstellen kann. Der Theoros ist der Betrachter, auch der Zuschauer im Sinne eines Publikums.

Was der Theoros tut, ist kein Untersuchern, wie man etwas unter dem Mikroskop ansieht. Es ist eher ein absichtsloses Schauen, das sich zum Beispiel auf das Unscharfe, auf das Vage richtet.

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Ich denke, man könnte das auch mit Lyrik vergleichen, die gegenüber der möglichst präzisen Aussage -- im Sinn einer Sachverhaltsdarstellung -- unseren Blick auf das Verschleierte richtet, auch auf Abwesendes, um genau damit etwas zu entschleiern, um genau damit andere Erfahrungen zu eröffnen.

Mißtrauen sie allen, die gerne mit dem Begriff "Querdenker" renommieren. Das markiert doch in den meisten Fällen ein Fälschergeschäft. Warum? Weil es eine so miserable Metapher ist. Was soll denn das sein, ein Querdenken? Hieße das, Denken sei grundsätzlich etwas "Geradliniges", zu dem man sich querlegen könne? Das ist es nicht!

Denken ist ein ungeheuer komplexer Prozeß, in dem nicht nur Neuronenensembles in unserem Kopf feuern, sondern an dem auch wesentliche Bereiche unseres Leibes mitarbeiten. Denken ist etwas, das offenbar den ganzen Menschen in Anspruch nimmt.

Wir haben eine Menge Freiheit, die Konsequenzen des Denkens einzudämmen. Wenn also jemand verkündet, Querdenker seien willkommen, ahne ich, daß einem genau dort das uneingeschränkte Denken schnell abgewöhnt werden könnte.

In meinem Bericht über die Session mit Marketing-Fachmann Norbert Gall hatte ich ihn mit einem bemerkenswerten Satz zu zitieren: „Ein System gibt nur die Wege frei, die ihm dienen.“ [Quelle] Die interessante Frage wäre demnach: Darf mein Denken Konsequenzen haben?

Was mich grade sehr beschäftigt, ist die Ahnung einer "nächsten Transformation" unserer Wirtschaft. Bei Jeremy Rifkin fand ich den Hinweis, daß Ghandi der Ansicht gewesen sei, Massenproduktion ziele darauf ab, mit immer raffinierteren Maschinen und immer weniger menschlicher Arbeitskraft bei sinkenden Kosten immer mehr Güter zu produzieren.

Ghandis Denken solle in der Sache darauf gezielt haben, daß es keine Märkte für die Produkte mehr gäbe, wenn alle Länder dieser Erde derlei Systeme der Massenproduktion annehmen würden. Das ist nur einer der Gründe, die an Transformation denken lassen.

In meinem Bericht über die Session mit Künstler Niki Passath habe ich seine Deutung des Begriffes Hacking/Hacker erwähnt: "Der Hacker nutzt Vorhandenes, um etwas anderes daraus zu machen, neuen Nutzen zu gewinnen." [Quelle]

Das sind einige Referenzpunkte in unserem heurigen Kunstsymposion, in dem ich deutlich zu machen versucht habe, daß wir uns in multidisziplinären Vorhaben den anstehenden Fragen prozeßhaft widmen: [Doku]

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Boris Groys: Alle schreiben, niemand liest.

Wo aber die angebliche Querdenkerei zuhause sein mag, haben Sie es vermutlich eher mit einer Art soziokulturellem Kameradschaftsbund zu tun, der zwei wesentliche Aufgaben hat, nämlich sich selbst zu verwalten und sich selbst zu feiern.

Wie könnte sich die Zivilisation im 21. Jahrhundert verändern? Können wir über vertraute Bilder hinausdenken? Was tun wir in dieser Art der Transformation? Das läßt mich eben an Karl Polanyi denken. Der Ökonom hat mit "The Great Transformation" eine aufschlußreiche Beschreibung geliefert, zu der ich hier im Eintrag vom 3. April 2006 notiert hab:

"Was völlig ignoriert, wovon 'Die große Transformation' (K. Polanyi) handelt. Also der Umbruch von agrarischer Welt zur 'Industriemoderne'. In dem genau dieses Nord-Südgefälle erzeugt wurde. (Geprägt von den Konsequenzen der Kolonialisierung der Welt.)"

Daß Europa keine weitere Kolonialisierung der Welt mehr zustande bringen wird, halte ich für geklärt. Wir haben weder die Konzepte, noch das Personal für solche Entwicklungen. In früheren Zeiten produzierte Europa so viele überzählige zweit-, dritt- und viertgeborene Söhne, daß sie im kampffähigen Alter auf die Welt losgeschickt werden mußten, um zuhause nicht die Verhältnisse zu sprengen.

Wir hatten einen so eklatanten Überhang an zornigen jungen Männern, daß wir große Ländereien angreifen, austöten und kolonisieren konnten. Dieses Abfackeln überzähliger junger Männer reichte bis in unsere Familiengeschichten herein.

Von welchem äußerden Feind wäre denn ein hochgerüstetes Deutschland und sein schlampiger Verbündeter Österreich 1914 tatsächlich bedroht gewesen? (Genau! Vom kleinen Serbien.) Welchen realen Feind hatten die Nazi-Kanaillen, um nach dem Großen Krieg einen weiteren anzuzetteln? (Genau! Das nicht ganz so kleine Polen.)

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Wir sind die Kinder einer problematischen Kultur, die ihr Erbe nicht leugnen können. Sei es das fast epidemische Ausmaß häuslicher Gewalt quer durch alle Milieus, sei es der Raubbau auf Kosten anderer; nicht zu vergessen der soziokulturelle Kameradschaftsbund, bei dem mittels angestrengter Querdenkerei das gepflegte Imkreisrennen institutionalisiert wird.

Rifkin malt eine interessante Option an die Wand. Bleibt zu klären, ob wir das mitentwickeln werden, oder ob es uns eines Tages von irgendwoher überraschen wird: "Die neue Ökonomie wird das Gemeinwohl durch lateral integrierte Netzwerke in kollaborativen Commons optimieren, anstatt durch vertikal integrierte Unternehmen auf dem kapitalistischen Markt."

Mit lateral ist ein Nebeneinander gemeint, im Kontrast zu hierarchisch (vertikal) angeordneten, von oben nach unten befehlenden Systemen. Das Kollaborative betont die Zusammenarbeit gegenüber dem antiquierten Modus, da sich ein einsamer Held in das Rad der Geschichte zu werfen versucht.

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