14. Mai 2014

Sie werden rasch ermüden, falls Sie über eine nennenswerte Strecke laufen sollen und sind das Laufen nicht gewöhnt.

Sie werden rasch ermüden, falls Sie über eine nennenswerte Strecke denken sollen und sind das Denken nicht gewöhnt.

Wer gerne und regelmäßig denkt, sollte allerdings seine sozialen Qualitäten überdenken, denn es ist unfein, andere Leute beliebig in Ermüdung zu treiben. Um solche sozialdarwinistische Rücksichtslosigkeit abzumildern, haben wir Klischees und Stereotypen. Sie helfen uns, den Tag zu bewältigen, ohne stets alles befragen und bezweifeln zu müssen.

Die Zeit verlangt nach solchen Überlegungen, denn die Ereignisse überstürzen sich. Der Salafismus, die Ukraine, der Eurovision-Song-Contest, um nur einige Beispiele für Komplexitätsquellen der Welt zu nennen.

Keine Sorge, diese Themen kommen auch ohne kausale Verknüpfung voran, denn DAS wäre ja überhaupt die Hölle des Denkens; wenn man hier Verbindungen sehen wollte. Ich mache es heute billiger:

Verstehen Sie Pop-Kultur, wenn man sie Ihnen erklärt?

Ich nämlich nicht immer und manchmal gar nicht gerne. Aber da ich mich oft für Gegenwartskunst stark mache und in Fragen der Kulturpolitik gerne aus dem Fenster lehne, kann ich Fragen zur Pop-Kultur nicht einfach ignorieren.

Ich verrate gleich, bevor das irgendjemand ausgräbt: Ich habe als junger Mensch nicht nur häufig die Beatles und Abba gehört, auch Elton John und T Rex.

Ich gestehe ferner, daß ich noch heute "I love Rock & Roll", dargebracht von Joan Jett, für einen der bedeutendsten Songs dieser Pop-Kultur halte.

Diese Perle haben Alan Merrill und Jake Hooker 1975 geschrieben. Ich hatte damals schon mein erstes Motorrad verschrottet. Jett ist zwei Jahre jünger als ich. Reimen Sie sich das alles selbst zusammen!

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Joan Jett, performing with The Blackhearts in Beaumont, California, during the 2010 Free Concert Series (Foto: Jessie Pearl, Creative Commons)

Es war eine gänzlich andere Ära als die Gegenwart. Silikon ist damals meist nur als Fugendichtmasse in Gebrauch gewesen, auf jeden Fall nicht als Füllstoff bei den Heroinen unserer Verehrung. Unseren jungen Herzchen waren andere Zusammenhänge wichtig. Der Merrill-und-Hooker-Song gibt Aufschluß:

I saw him dancing there by the record-machine
I knew he must have been about seventeen
the beat was going strong playing my favourite song
and I could tell it wouldn't be long till he was with me yea with me
[...]

Dieser Tage boten sich allerhand Streitgespräche rund um den Eurovisions-Song-Contest für unsere Erregung an. In einige habe ich mich verstrickt, Erregung gelang postwendend. Das jüngste Streitgespräch trug quasi als Standarte folgendes Statement vor sich her: "Ich finde einfach, dass so ein 'nuttiges' Verhalten auf einer Eurovision-Songcontest-Bühne nix verloren hat."

Die Demoiselle mit dem strengen Maßstab ist noch auffallend jung, posiert auf Facebook keck mit nacktem Bäuchlen und hält davor ein Ultraschallfoto in die Kamera, um klar zu machen: Da ich schwanger bin, bin ich Frau und hab auf jeden Fall schon einmal Sex gehabt.

Die Pose der Demoiselle ist natürlich der Pop-Kultur entlehnt. So haben sich schon zahlreiche Frauen im hohen Promi-Status den Magazinen und der Welt gezeigt. Der jugendliche Befund wird aber nicht standhalten.

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La chanteuse américaine Nina Simone en concert à Morlaix (Bretagne, France)
en mai 1982 (Foto: Teddyyy, GNU License)

Eine ältere Dame sprang der Jungmutter bei und ließ uns wissen:
"Liebe Xxxx: ich bin immer wieder selber geschockt (v.a. als Mutter einer 13-jährigen Tochter), dass Sängerinnen glauben, sich immer noch lasziver, noch weniger bekleidet zeigen müssen, damit ihre MUSIK rüber kommt."

So ging das noch ein Stück weit, bis ich ein paar Einwände vorbrachte. Die Demoiselle konstatierte noch ein: "Sex sells, das is leider schon seit ein paar Jahrzehnten so."

Pardon! Das ist seit Adam und Eva so. Dieses Statement erscheint daher so aufschlußreich wie "Der Papst ist katholisch" oder "Das Wasser ist naß".) Aber darum geht es gar nicht. Worum ging es eigentlich?

Es ging um Donatan & Cleo mit ihrem Song "My Slowianie" [link] und dessen visuelle Umsetzung. Daß hier eine ganz unverblümte "Arsch- und Titten-Nummer" zelebriert wir, hat mehrere Referenzpunkte und natürlich auch Fundamente in der Pop-Kultur.

Die Verknüpfung von Sex und Geldvermehrung ist hier ontologisch und innerhalb der Pop-Kultur geradezu unkritisierbar, weil konstituierend. (Pop ohne Sex und Kohle ist wie Currywurst ohne Wurst und Curry.)

Der jüngste Bezugspunkt dieser unkorrekten "Sexiness" liegt im schwarz geprägten Hochpreis-Segment mit all den "Gangstas" und den wilden "Bitches": Aufgepumpt, prall, sexuell aggressiv und explizit, sexistisch bis der Arzt kommt.

Daß wir in unserem österreichischen Nähkästchen damit Probleme haben, ist ein alter Hut. Als die Popmusik sich einst ihren verschiedenen Quellflüssen entrang, waren es vor allem die Schwarzen mit ihren ziemlich unverblümten Texten, in denen auch Sexualität, Mord und Totschlag ganz offen thematisiert wurden.

Deshalb reüssierten in den Gründertagen des Rock & Roll zuerst "Kalkleisten" wie Bill Haley oder Elvis Presley, während ungezählte Radiostationen Amerikas die Musik der Schwarzen boykottierten.

Die wenigstens kursorische Kenntnis jener blumigen Sprache würde helfen, die visuellen Codes von "My Slowianie" als "popistisch" zu verstehen.

Wenn die drallen Mädchen mit den klaffenden Dekolletees und den schwellenden Lippen in den Fässern Butter stampfen, ist die Metapher sicher dem letzten Deppen klar. Zu "nuttig"?

Was meint den nun etwa die große Nina Simone, wenn sie singt "I Want a Little Sugar in My Bowl"?

Geht es da um die Zubereitung von Sangria oder einfach um das Kochen von Marmelade? Nein, sie zitiert die vermutlich noch bedeutendere Bessie Smith:

I need a little sugar in my bowl,
I need a little hot dog, on my roll
I can stand a bit of lovin’, oh so bad,
I feel so funny, I feel so sad
[...]

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Bessie Smith, February 3rd 1936
(Foto: Van Vechten Collection,
Public Domain)

Hier eine Version aus den frühen 1930ern, wo man auch den gesamten Text nachlesen kann: [link] "I need a little steam-heat, on my floor / Maybe I can fix things up, so they'll go / What's the matter, hard papa, come on and save you mama's soul..." Böses, böses Mädchen!

Bevor also die weißen Madonnen dieser Pop-Welt den "Luxusschlampen-Stil" etabliert und vermarktet haben (Stilmerkmal: "nuttig"), sind schwarze Frauen schon Jahrzehnte eher losgezogen, um den Heuchlern und den seriös Prüden das eine und andere Liedchen zu trällern.

Diese Frauen wußten ja seit Generationen, wo und wie sich selbst honorigste weiße Masters und Massas erleichterten und entleerten, wenn sie sexuell zu sehr unter Druck gerieten. Frauen wissen davon heute noch rund um die Welt so manches schmutzige Lied zu singen, auch hier, bei uns, im österreichischen Nähkörbchen.

Damit ist diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt, aber ich habe heute auch anderes zu tun. Fortsetzung folgt. Aber als Cliffhanger sei hier noch eine meiner Lieblingspassagen aus jener Debatte deponiert:

"Martin Krusche: lasst du bitte diesen Ton!"

-- [The Track: Pop] --

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