16. Dezember 2013Einer der schönsten Sätze in der europäischen Geschichte lautet: "Und
sie bewegt sich doch!" Er ist Legendenstoff, also ohne gesicherte Quelle. Die
italienischer Version mag ich als phonetisches Ereignis sehr: "Eppur si
muove!"
Dieser Ausruf wird Galileo Galilei zugeschrieben, könnte
aber auch von Giordano Bruno stammen oder ist überhaupt das Produkt späterer
Erzählungen. Für mein Befinden ist die Quellenlage allerdings völlig nachrangig.
Mir gefällt dieser unmißverständliche Hinweis, daß
Macht nicht mehr wiegen darf als eigene Erkenntnis. (Ich setze als bekannt voraus, daß es
um die Frage ging, ob sich die Erde um die Sonne drehe oder die Sonne um die Erde.)
Dann ist da ein zweiter Satz aus der Geschichte, an dem ich
sehr hänge; zumal er von einem Schriftsteller stammt. "Ich klage an!"
ist im ursprünglichen Französisch ja sehr knapp gefaßt: "J'accuse!".
Emile Zola forderte den Staat heraus. Ein Intellektueller
benutzte seinen Verstand im Kontrast zu dem, was an öffentlicher Meinung (in der Affäre
Dreyfus) gerade vorherrschte und schlug einen Pfahl in diese öffentliche Meinung.
Unsere Gegenwart zeigt mir einigermaßen deutlich, daß
solches Dagegenstehen keineswegs selbstverständlich ist, selbst wenn in meinem
Milieu das Zitieren und "Liken" auf Felden der Social Media populärer
denn je ist. Dagegenstehen per Knopfdruck? Mumpitz!
Dem Knopfdruck der Hilflosigkeit muß dann doch
etwas anderes folgen. Diese Dinge gehen mir durch den Kopf, wo mich eigentlich eine
Konfusion bewegt, die sich an den Konsequenzen eines Mangels an Dagegenstehen entzunden
hat. (Gleichgültigkeit tötet!)
Ich habe hier Anfang Dezember vom bosnischen Autor Muhidin
Saric erzählt: [link] Da wußte ich noch nicht,
daß wir kurz darauf gemeinsam an einem Tisch sitzen würden. Ich war gebeten worden, in
einer Lesung von Saric' Gedichten, die er bosnisch vortrug, die deutschen Fassungen zu
übernehmen: [link]
Das waren für sich allein sehr bewegende Stunden. Mich
beschäftigt nun, knapp eine Woche danach, immer noch das stille Wesen dieses Mannes. Ich
bin Saric mit großer Neugier begegnet. Das handelt im Kern von meiner Unruhe in der
Frage, mit der ich schon Jahre unterwegs bin: Wie einander begegnen, vor allem worin
einander begegnen, wenn Überwältigung nicht abzuwenden war?
Im Augenblick scheint mir, wo wir wenig mit einander
gesprochen haben, daß ich derzeit selbst dann, wenn ich seiner Muttersprache fähig
wäre, nicht mehr mit ihm zu sprechen gehabt hätte. Es war vor allem seine Stille, die
mir sehr imponiert hat. Aber was er geschrieben hat, ist zutiefst beunruhigend.
Darin bin ich dann auch auf die eingangs zitierten Sätze
gekommen. Flaggen der Zuversicht. Diesseits davon gibt es eine konkrete Passage im Keraterm-Buch
von Saric, die mir keine Ruhe läßt. Sie beginnt so:
"Der zweiundzwanzigjährige Sead aus Prijedor hat
einen langen Tod. Er ist ein schöner junger Mann, mit dunkler Haut und breiten
Schultern."
Saric schildert auch den Vater des Burschen: "Ein
schweigsamer Fünfzigjähriger mit eingefallenen Wangen."
Der Vater ist ein Mann meiner Generation, der Junge im
Alter meines Sohnes. Sead hat von einer nächtlichen Prügelorgie der Wärter so schwere
innere Verletzungen davongetragen, daß das Leben über Tage langsam und schmerzhaft aus
ihm weicht, während sein Vater ihm bloß durch seine Anwesenheit beistehen kann. Er "beugt
sich über ihn und streicht ihm übers Haar."
Saric verzichtet in seiner Schilderung auf drastische
Bilder, wird im Ausdruck keinen Augenblick heftig, läßt das Kapitel mit folgenden Worten
enden:
"Auf dem blauen Arbeitshemd liegt der Sohn. Er ist
tot. Oberhalb seines Kopfes sitzt der Vater, ruhig, stumm und reglos, wie aus Marmor
gemeißelt.
Das zwingt mir ein paar simple Fragen auf.
Wodurch kommen ziemlich normale Menschen in die Lage, recht
schnell zu solchen Tätern zu werden, die ertragen, was sie anderen antun? Wie begleitet
man sein Kind auf solchem Weg, ohne daß einem das Herz stehen bleibt? Wie versöhnt man
sich mit der Welt, wenn man auch bloß Augenzeuge solcher Vorgänge war?
[The Track: Axiom | 2014]
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