9. Dezember 2013

Langsam kristallisiert sich für mich aktuell heraus, worum ein adäquater kulturpolitischer Diskurs eigentlich kreist. Der vorige Eintrag enthielt folgende Passage: Es geht darum, in der "Erzählung von uns" Stimmen zu erheben, diese Erzählung mitzugestalten.

Im Gedränge auf dem Medien-Boulevard kommen uns Politik und Wirtschaft immer stärker durcheinander; und zwar in dem ganz offensichtlichen Bedürfnis, diese Gesellschaft erneut durchzurekrutieren. Das geschciht unter anderem, indem wir werbewirksame Erzählungen aufgedrängt bekommen, die uns zuflüstern, wer und was wir seien...

Mich beschäftigt dabei die Vorstellung, daß sich hier Kräfte in einer mehr oder minder stillen Allianz die Arbeit an der Konstituierung eines neuen Ständestaates teilen. Es ist das Revival einer streng hierarchisch geordneten Gesellschaft, in der sich eine kleine, äußerst bevorzugte Elite in Fragen des Prestiges und im Zugriff auf Ressourcen längst sehr stabil nach unten hin abgesichert hat. Da ist mindestens eine Bundespolitik, die dem nicht adäquat entgegensteht.

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Gerade auf dem Feld der Social Media läßt sich sehr anschaulich verfolgen, wie schwach bis völlig kompetenzfrei aus den Winkeln weniger begünstigter Menschen Jammertöne gegen diese Barrieren branden.

Wir sollten eigentlich Konsens haben: Klagen ist kein Konzept. Falls Klagen nicht gerade als Schmerzenslaut ertönt, verkommt es zur völlig leeren Geste. Solch ein Chor der Jämmerlichkeit und des Jammers ist natürlich das allergeringste Problem für die längst etablierten Gatekeeper an diversen Standesgrenzen.

Die gute Nachricht besagt, daß wir immer noch alle Freiheit haben, in diesen Status quo auch handelnd einzugreifen, ohne daß man nachts plötzlich von einem Rollkommando abgeholt und an einen unbekannten Ort verbracht wird.

Wer von uns hätte gedacht, daß wir eines Tages feststellen müßten, was eigentlich unerträglich ist? Eine halbe Tagesreise von mir entfernt geschah genau das, mehr noch, waren auch Lager errichtet worden, um ungestört und konzentriert jene mißhandeln zu können, die man über ethnische Säuberungen ohnehin aus der Welt schaffen wollte. (Ich denke, nach Bregenz brauche ich mit dem Auto länger als nach Kozarac.)

Zum Gesamtereignis des konsequenten Demütigens, Quälens und Ermordens gehörte auch die gezielte Ausrottung von Intelligenz nach ethnischen Kriterien. Ich vermute allerdings, daß die beschwingten Täter dieser Vorgänge der Intelligenz innerhalb der eigenen Ethnie ebenfalls eher wenig getraut haben und zu manchem Schlag bereit gewesen sind.

Wo gebildete Menschen, im Denken erfahren, etwa in Zagreb, Sarajevo oder Beograd dieses gefährliche Mißtrauen fürchteten und sich dem nicht entgegenstellen wollten, haben auffallend viele ihre Mäntel sofort in den Wind gehängt, wie man das in Schriften von zum Beispiel Dubravka Ugresic oder Slavenka Drakulic nachlesen kann.

Könnte uns doch nie passieren, richtig? Na, das glaub ich ja sofort!

Mist! Das kauf ich natürlich niemandem ab. Wollte ich nun in solchen Fragen österreichischen Kunst- und Kulturschaffenden trauen, wüßte ich einfach nicht, ob ich in zehn Tagen zwanzig ausgeschlafene Leute zusammenbrächte, die bereit wären, ihr Reflexiondvermögen öffentlich in diverse Waagschalen zu werfen.

Auf Facebook Berichte über andere couragierte Menschen posten und liken, jaaaa, das krieg ich für zehn Cent tonnenweise. Aber dort draußen, vor der Tür... Woran erinnert mich das nun bloß? Draußen vor der Tür.

"Noch nie war etwas so weiß wie dieser Schnee. Er war beinah blau davon. Blaugrün. So fürchterlich weiß. Die Sonne wagte kaum gelb zu sein von diesem Schnee. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber gewesen wie dieser. Nur hinten stand ein dunkelblauer Wald. Aber der Schnee war neu und sauber wie ein Tierauge."

Muß ich von Wolfgang Borchert erzählen? (Das Zitat stammt aus Borcherts Kurzgeschichte "Mein bleicher Bruder".)

Ich möchte es augenblicklich so zusammenfassen: Wo die Nieten und Gewaltverliebten, Schnorrer und Großmäuler, Getriebene und Gebliebene sich zu einer Soldateska zusammenrotten dürfen, die von politischem und militärischem Personal im Mißhandeln und Morden gut angeleitet werden, muß ich annehmen, daß es schon Jahre davor einen Krieg der Worte und ein spezielles Schweigen gegeben hat; beides in Wechselwirkung geeignet, solchen Verhältnissen Bahn zu brechen.

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Normalität kann sehr schnell in Grausamkeit kippen, aber das fällt nicht einfach vom Himmel. Ich hatte kürzlich für unser laufendes Projekt zwei Fotos zu vergleichen. Das eine zeigt den Künstler Selman Trtovac (links) mit einem Maschinengewehr, das andere mich. (Es könnte sich um das gleiche MG 42 aus Wehrmachtsbeständen handeln.)

Vor Selman lag damals noch ein realer Krieg, dessen Herannahen ihm sehr fundamentale Entscheidungen abverlangte. Mein Bildnis aus den 1970er-Jahren zeigt ganz und gar unverkennbar eine aus Spielfilmen übernommene Pose. [Größere Ansicht]

Da diese Szene rund 40 Jahre zurückliegt, kann ich mich nicht mehr erinnern, welche Gedanken damals authentisch in meinen Kopf geraten waren, um dieses Foto herbeizuführen. Also kann ich es heute distanziert auf seine Ikonographie hin betrachten und dabei bestaunen, wie anziehend es offenbar gewesen war, Posen aus einer virulenten Inszenierung zu übernehmen, die definitiv nicht zu meinem Leben gehörte.

Um zu ermessen was es bedeutet, den "soldatischen Mann", den "Krieger", bei hohem Sozialprestige gesellschaftlich präsent zu halten, ist es hilfreich, sich die Männerposen und Redensarten in Erinnerung zu rufen, wie sie über unsere Massenkultur definitiv alltäglich durch unser Leben geistern.

Dem steht die noble Distanz zu realen Gewalttaten gegenüber, die unsere Gesellschaft hier derzeit erlaubt.

Wie schon angedeutet, um die Orte von Europas junger Schande zu besuchen, reicht eine halbe Tagesreise. Ob Vukovar, Srebrenica oder Omarska; man kann die Route übrigens so wählen, daß man an Jasenovac vorbei kommt. Das sollte deutlich machen: Die Opfer können ganz beliebig markiert und für eine Überwältigung bereitgestellt werden.

Es ist der Krieg der Worte, der stattfindet, längst ehe Blut fließt. Es ist eine ganze Gesellschaft, die diesem Aufmarsch der Menschenverachtung nicht widerspricht und nicht in den Weg tritt.

[The Track: Axiom | 2014] [Generaldikumentation]

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