24. November 2012Zeitschleuder. Manchmal hab ich das Gefühl, mir fehlen einige Tage. Nein. Am
Wein liegt das nicht. Ein hochgedrehter Lauf von Dingen im Kontrast zu stillen Stunden.
Wie ich die Geselligkeit liebe, ist mir auch der Kontrast dazu wichtig. Ein halber Tag in
Stille, das ist so gut wie eine Torte mit Cremefüllung.
"Hab ich dich aufgeweckt?" fragte der
Bürgermeister von Albersdorf, als er mich kürzlich mitten am Vormittag anrief. Es kommt
gelegentlich vor, daß ich erst am späteren Vormittag aufstehe, weil mir davor die Nacht
zum Tag geworden war. Aber meist ist es so, daß meine Stimme zum ersten Mal anspringt,
wenn mich jemand anruft.
Während ich das schreibe, ruft mich eine Verkäuferin des
Schuhgeschäftes an, in dem man sich bemüht, mir in Schuhgröße 46-47 etwas zu
beschaffen. Zum Abschluß sagt sie: "Ich hoffe, ich hab sie nicht
aufgeweckt."
Ich hab mich in den letzten Wochen zunehmend mit der Frage
des Eingebettetseins befaßt. Die Stunden der Stille sind eine der möglichen
Gegenpositionen dazu. Lassen wir die mediale Welt herein, sind wir eingebettet. Ich hab
das Bild aus dem Irakkrieg von 2003 bezogen.
Aus jenen Tagen stammt der Begriff "Embedded
Journalist". Das amerikanische Militär drehte der freien Presse den Hals zu.
Die Berichterstattung aus dem zweiten Golfkrieg und aus Afghanistan hatte in "God's
own Country" zu viel Unruhe erzeugt. Folglich wurden zivile Presseleute in
militärische Einheiten gepackt und so kontrolliert. Eingebettet. Embedded.
Von links: Jelena Juresa, Ivana
Volic und Mirjana Peitler-Selakov
Solche Zusammenhänge haben wir auch bei der kleinen
Auftakt-Konferenz zu "naa mesta" [link] debattiert. In dem von
serbischer Seite initiierten Projekt geht es um eine "Geographie des Erinnerns
und Vergessens".
Die ist ein Zusammenhang der individuellen und kollektiven
Identitätsbildung. Dieser Fragenkomplex berührt, was ich hier in einer Reihe der vorigen
Einträge schon angesprochen habe. Da sind einerseits die irritierenden Beispiel der
Autorinnen Monika Wogrolly und Andrea Wolfmayr, deren aktuelle Arbeiten illustrieren, wie
heimische Intelligenz an der Inszenierung einer boulevardesken Scheinwelt arbeitet.
Da ist andererseits die Arbeit des Wissenschafters Matthias
Marschik, mit dem ich gerade ein gemeinsames Buch beendet habe, der sich in einem Teil
seiner Tätigkeit mit Medienfragen befaßt.
Wo es um Werbung geht, konstatiert Marschik, Konsumenten
würden nicht mehr zum Kauf angeregt, sondern zur Übernahme eines bestimmten Lifestyle,
es gehe dabei um die "Übernahme dominanter Mythen und Symbole".
Ich halte es für extrem wichtig, diesen Mechanismus zu
erkennen. So wird dann auch begreiflich, was da geschehen ist, als etwa die Philosophin
Monika Wogrolly sich vor dem Patriarchen Frank Stronach auf die Knie warf; siehe den Eintrag vom 28. Oktober 2012!
Auf Facebook rundet sich das Bild.
Justizministerin Beatrix Karl hat Frank Stronach für das von Wogrolly geführte Magazin "Living
Culture" Richtung "Gentleman Award" geschubst. Autor
Franzobel gratuliert Stronach, Frank posiert mit der "Miss Living Culture".
Geld, Politik, Kultur, Arsch & Titten. Alles unter einem Hut. Perfetto!
Das ist derart skurril, als hätte Jörg Vogeltanz schlecht
geträumt und sich das alles ausgedacht, um jemanden zu ärgern. Auf der Website steht zu
lesen, Stronach habe gesagt: Ich habe den LIVING CULTURE Gentleman Award
entgegengenommen, weil es wichtig ist, Kultur zu leben
[Quelle]
Eine absolute Null-Aussage, reines PR-Gezwitscher. Was
passiert da?
Marschik verweist auf Debatten, wonach
"Identität" selbst zum Mythos in unserer Konsumkultur geworden sei. Identität
müsse "ständig in Bewegung gedacht werden, und die entsteht aus den ständig
sich verändernden Wechselwirkungen zwischen der Alltagskultur und den medialen
Präsentationen und Repräsentationen mit deren unterschiedlichen
Repräsentationsmustern..."
Ein Stück realer Hintergrund, von
links: Andrea Wolfmayr, Hartmut Skerbisch,
Martin Krusche, Anke Barbard und Alex Deutsch
Dazu paßt dann auch die irritierende Fälschung, die sich
Autorin Andrea Wolfmayr mit ihrem Trivialroman "Weiße Mischung"
leistet. In diesen hier exemplarisch genannten Arbeiten ereignet sich eine Inszenierung
unserer Zustände, die mit unseren Zuständen überhaupt nichts mehr zu tun hat, was
verschiedene Schlüsse nahelegt.
Einer dieser Schlüsse muß lauten: Wir wollen uns mit
dem Status quo und seinen Vorbedingungen nicht befassen.
Gegen diese Position ist freilich kein Einwand möglich.
Autorinnen müssen die Freiheit haben, sich von jeglicher im Alltag erlebbaren Realität
völlig abzukoppeln.
Marschik zitiert Paul Rodaway: "Der Käufer
definiert sich als Subjekt nicht mehr primär in Beziehung zu seinen persönlichen
Erfahrungen, sondern immer mehr zu den Bildern, die von der Werbung ständig präsentiert
werden, und durch diejenigen Produkte, mit denen er sich identifiziert."
Na, das paßt doch. Das erklärt dann auch, warum im Text
ein "guter Cognac" vorkommen muß, "gebratene Bananen mit
geeister Mango" gehören ebenso zum Dekor. Es gibt "einsame
Wölfe" nebst "Hokkaidoschnitten und Kürbiseis", Frida Kahlo
muß stillhalten, es fehlt, wenn ich mich recht entsinne, nicht einmal an einer Rolex
in der Geschichte. Firlefanz!
Wir sind heute alle "embedded citizens".
Aber worin eingebettet? Leider nicht in die Zivilgesellchaft, sondern in eine
massenmediale Situation, in eine Massenkultur, die von der Wirtschaft bestimmt und von der
Politik unterstützt wird.
Ich muß darauf bestehen, von Kunstschaffenden klare
Gegenpositionen zu erwarten, was sich in der Steiermark auch finden läßt, aber eben
nicht nur. Und in genau diesen Zusammenhängen muß ich anfechten, was Wogrolly und
Wolfmayr repräsentieren. |