29. Jänner 2012

Ich hab im vorigen Eintrag die Anschaffung eines Fahrrades erwähnt. Wann immer ich mir in den letzten Jahrzehnten ein Fahrrad gekauft habe, war es Teil der Reaktionen auf eine Krise. Aus den letzten 30 Jahren sind drei solcher Situationen überliefert. Drei fundamentale Krisen...

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Zu meiner eigenen Überraschung habe ich eben festgestellt, daß sich diese drei Jahrzehnte fast perfekt runden. Jenes Fahrrad hatte ich mir zwischen 11. und 24. September 1982 gekauft. Zwischen "Mein Essen mit André" von Louis Malle und "Der letzte Kuß" von Dolores Grassian.

Damals war es eine ökonomische Krise mitten in der Blüte meiner Bohéme-Tage gewesen. Ich fuhr ein ehemaliges Renn-Fahrzeug, einen brüllenden Ford Escort. Die zickige Bestie trieb mich mit ihrer Pannenanfälligkeit zur Verzweiflung und ganz nebenbei langsam in den finanziellen Ruin.

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Man konnte so eine Kuriosität seinerzeit auch niemandem mehr für halbwegs gutes Geld verkaufen, mußte geradezu froh sein, das Teil für ein paar Schilling loszuwerden. Als ich mit dem Ford fertig war, blieben noch Mittel für das oben gezeigte Fahrrad. Damit war Anfang der 1980er die angenehme Erfahrung zu machen, daß man in Graz sehr flott die kürzesten Wege fahren konnte, was einem per Automobil längst nicht mehr möglich war.

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Ich wohnte sehr bescheiden für gerade noch Strom- und Betriebskosten in einer vormaligen Schmiede in der Neubaugasse. Alte Grazer Industriegegend aus den Tagen, wo die nahe Lederfabrik Bieber die größte Anlage auf dem Set war; auch längst stillgelegt. Diese Fabrik spielte in der einst bedeutenden Grazer Fahrradindustrie eine Rolle als Erzeuger von Sätteln: [link]

Die Schmiede war der Vorläufer von "Stahlbau Mayer" gewesen; heute steht das Haus nicht mehr, denn es hatte eine Engstelle in der Neubaugasse gebildet. Der laufende Betrieb war in jenen Tagen in der Rottal-Mühle (Körösistrasse) untergebracht. Heute ist das "Blechtechnik Koller". (Zum Stichwort Rottal-Mühle siehe meinen "Crasher" [link] aus den 1970ern!)

Koller erwähnt das auf dem obigen Foto gezeigte Haus als "Bau- und Kunstschlosserei", die 1884 gegründet worden sei: [link] Da unter dem Flugdach aus dem einstigen Betrieb über viele Jahrzehnte ein großer Haufen Koks erhalten geblieben war, mußte ich damals auch keine Heizkosten aufbringen.

Ich war also, selbst weitgehend frei von handwerklichem Geschick, über etliche Jahrzehnte auf vielfältige Art in diese Themen verstrickt, die sich inzwischen zu meiner Vorstellung von Mobilitätsgeschichte verdichtet haben. Man könnte sagen, ich war stets teilnehmender Beobachter. Und immer bin ich dabei zwischen rationalen und irrationalen Zugängen gespannt gewesen.

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Foto: Max Reder

Es ist nun kein Zufall, daß ich den gestrigen Abend mit Max Reder verbracht habe. Er ist ein Kenner und Sammler historischer Fahrräder. Und er ist in dieser Sache Praktiker... was etwa beim Fahren von Hochrädern einiges an Mumm und Erfahrung verlangt, um alle Knochen heil zu behalten.

Auf dem Foto sieht man Reder mit falschem Bart und einem echtem, atemberaubenden Albl "Graziosa" von 1899. Mehr aus seinem Archiv und seiner Sammlung: [link] Wir haben eine Reihe von Fragen debattiert und sind uns in einem Punkt auf jeden Fall einig: Das Fahrrad ergibt in der Sozialgeschichte der letzten 150 Jahre einen zentralen Hebel, durch den Entwicklungen bewegt wurden, deren Ausmaß und Komplexität in den Wechselwirkungen uns heute kaum noch bewußt sind.

Möchten wir das 20. Jahrhundert begreifen, sollten wir das Wesen der Massenmotorisierung verstehen; die ist wiederum ein legitimes Kind der individuellen Mobilität, welche durch das Fahrrad vom exklusiven Herrenvergnügen zum Breitensport wurde. Das ist alles in seiner Ausformung heutige Zustände sehr viel Ideologie und Propaganda plus weltbewegender Technologieschübe. Eine Geschichte großer Emotionen.

Es ließe sich so zusammenfassen:
Wir würdigen Ikarus und haben Daedalus vergessen.

[Die Gefolgschaft des Ikarus]

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