25. Juli 2011 Oslo. Das bedeutete für mich im ersten Moment: Wenn mein Kind nicht mehr
nach Hause käme. Und welchen Schrecken der Bub erlitten hätte. Ein Albtraum im Albtraum
als Phantasie. Und daß mich das alles sehr traurig macht.
Die Vorstellung von den Toten von Utøya ist bei mir von
Spielfilmszenen überlagert. Ich bin ja selbst ein Kind dieser visuellen Welten, in denen
wir alles, ALLES schon zu sehen bekamen. Obwohl ich meine ersten TV-Sendungen bei den
Nachbarn erlebt habe, weil das Fernsehgerät in meiner Familie erst spät zum Inventar kam
und nicht schon da gewesen ist.
Ganz egal, welches Grauen sich jemand vornimmt, wir haben
alles schon GESEHEN. Das war die zweite Nachdenklichkeit, die mich beschäftigte. Ich
erinnere mich noch gut, daß in jenen Tagen meiner Kindheit ein Übermaß an Fernsehkonsum
und die Lektüre von Comic-Heften als Gefahrenquelle angesehen wurden.
Nein, ich beziehe das nicht auf Behring Breivik, der uns
von den Medien gerade als mutmaßlicher Täter vorgeführt wird. Es ist kolportiert
worden, daß er ein Faible für Computerspiele mit hohem Niveau an Gewalttätigkeit habe.
Ich bezweifle eine besondere Aussagekraft dieser Information, wie sie uns momentan daher
kommt.
Was immer zu solchen Taten befähigt hat, die nun zu
klären sind, es muß eine komplexe Mischung sein, in der eine düstere Seite von
erheblichem pathologischen Ausmaß die Richtung vorgegeben hat.
Ich finde freilich meine bevorzugte Annahme erneut
illustriert: Jedem Massaker geht ein Krieg der Worte voraus. Wir erleben in Europa schon
lange, von sehr viel Hilflosigkeit begleitet, eine wachsende Brutalisierung des Denkens
und der öffentlichen Diskurse.
Der Täter von Oslo scheint eine Reihe sehr populärer
Motive zu bündeln. Ein arroganter Weißer mit Sendungsbewußtsein, selbstverständlich
der alten Klamotte verpflichtet, das Abendland "retten" zu wollen, einem
deutlich zurechtgestellten Feindbild gewidmet, den Muslimen, dabei in einer
operettenhaften Selbstinszenierung aus Soldat und Actionheld aufgemacht, zum Töten gut
gerüstet. Das militante Gehabe des Mannes äußert sich auch nach dem Massaker
auf verblüffende Art:
>>Der mutmaßliche Attentäter von Oslo, Anders
Behring Breivik, hat den Wunsch geäußert, am Montag "in Uniform" vor dem
Richter erscheinen zu dürfen, der über seinen Verbleib in Untersuchungshaft entscheiden
muss.<< (Quelle: "APA")
Ohne die hohe Feuerkraft des Täters wäre das Ausmaß des
Massakers wohl nicht möglich gewesen. Das norwegische Sturmgewehr, von dem es heißt,
zwei von drei Norwegern seien in seinem Gebrauch gut trainiert, ist eine Lizenzversion des
deutschen G3 von Heckler & Koch. Also nicht gerade ein Star aus dem
Mainstream-Kino, aber ein extrem effizientes Tötungswerkzeug und vor allem... erreichbar.
In Kombination mit dem Bombenattentat, das einschüchternde
Dimension zeigt, kombiniert dieses Verbrechen so viele Details einer ratlosen,
engstirnigen Proletenbewegung, die sich im historischen Faschismus keinesfalls erschöpft
hat, so daß wir nun ernsthaft gefordert sind, mit all unserer Kenntnis von solchen
Vorgängen und ihren Grundlagen adäquat zu antworten.
Dieser Vorfall ist ja bloß eine von mehreren Episoden, die
seit Jahren nicht abreißen, die stets eine Reihe von Schnittpunkten an Motiven haben und
die jedesmal Menschenleben kosten. Es versagt die Politik seit Jahren nicht mehr als die
Zivilgesellschaft.
Das kann nun seinerseits nicht bedeuten, ebenso ratlos und
engstirnig die Mausklick- Demokratie in den nächsten Gang zu schalten und mit dem
Posten "Solidaritätsadressen" plus "Gefällt mir"-Bestätigungen
die weltweiten Server-Farmen aufzuheizen.
Was in Norwegen auf pathologische Art einen neuen
Höhepunkt erreicht hat, Gewalttätigkeit als Lösungsmittel zu propagieren, verdankt sich
einer großen Stagnation der Politik, die sich mit zivilgesellschaftlichen Schwächen und
auch mit Bequemlichkeiten paart.
Wir haben der "Neuen Rechten" seit den 1980ern
zugesehen, wie diese Leute in die Politik aufgebrochen sind und nun längst Europas
Parlamente erreicht haben. Wir durften etwa in Österreich erleben, wie nun über
wenigstens zwei Jahrzehnte ein Rechtspopulismus in Ausmaßen Boden gewinnen konnte das
spottet jeder Beschreibung.
Wir sehen zur Zeit, daß sich weite Bereiche der heimischen
Bundespolitik dem Boulevard angedient haben. (Siehe dazu mein Projekt-Log #360!)
Rechnen Sie ein, daß unter den Beziehern von PRESSFÖRDERUNG die Gratiszeitung "HEUTE"
absoluter Spitzenreiter ist (28% der verfügbaren Mittel), gefolgt von "Österreich"
(19%) und "Kronenzeitung" (13%). Ich kann es selbst nicht recht
glauben, während ich es schreibe.
Wir haben also, was Meinungsbildung und differenzierte
Betrachtung aktueller Problemlagen angeht, ein sehr ernstes Problem, denn da gehen
Boulevard und Spitzenpolitik unübersehbar Hand in Hand. Nebenbei erwähnt:
Inseratenkampagnen der Bundesregierung machen in Summe an Kosten längst mehr aus als
deren Mittel für Kunst und Kultur, ein weiterer Gewinn des Boulevards.
Im gestrigen Eintrag
habe ich unübersehbar ironische Kritik an meinem Milieu geübt. Die rebellische
Attitüde, welche da gerade vorherrscht, finde ich obszön. Die auffallende
Diskursschwäche finde ich katastrophal. Die dominante Phrasendrescherei, in der teilweise
gerade noch die Sprache des politischen Opponenten übernommen wird, ist eine
intellektuelle Bankrotterklärung.
Wir haben also viel an demokratischem Spielraum verloren.
Einer gewalttätigen Aufladung öffentlicher (und politischer) Diskurse folgen seit Jahren
immer mehr demonstrative Gewalttaten, die sich als Legitimation bewähren werden. Denn
auch wenn jemand wie der Täter von Norwegen mit seinen offenkundig pathologischen
Anteilen kein politisches Ideal abgegeben kann, wird er doch Gegenstand von
Heldenverehrung werden.
Mich interessieren in diesem Zusammenhang nun weder
Lamentos, noch irgendwelche Betroffenheitsgymnastik. Mich interessiert ausschließlich,
was wir einzeln und in Gemeinschaft zu tun gedenken, um der Tyrannis und ihren
Gefolgsleuten wieder Boden abzunehmen. |