10. Jänner 2011

Was will Europa sein? Ich hab im vorigen Eintrag das "Thema Sarrazin" gestreift; es zeigt seine heimischen und seine europaweiten Entsprechungen. Sarrazins Träume von einem ungestörten Leben im gut gepolsterten Nähkästchen haben eine rabiate Vorgeschichte. Seinesgleichen tun ja gerne so, als hätte der nördliche Westen Europas sich den Wohlstand redlich verdient, mit harter Arbeit erworben.

Und genau das -- Redlichkeit, Wohlstand und Arbeitsethik -- ergibt jenes Phantasma, dessen Verteidigung in solchen Winkeln mit präfaschistischen Debatten und entsprechenden Maßnahmen betrieben wird. Was Redlichkeit und Ethik betrifft, widerspricht dem allem ja allein der Umstand, wie die Besitztümer in unseren Gesellschaften verteilt sind.

Nimmt man dazu, daß in Ländern wie Österreich und Deutschland die Korruption enorm hoch ist, Steuern und Abgaben hinterzogen werden, daß man nur so staunt, Mobbing und Diebstähle in den jeweils eigenen Betrieben längst große Probleme ergeben etc., dann ist Leier mit den angeblich westlich-christlichen Werten mehr als gewönungsbedürftig. Wenn ich dazu noch die Themen Gewalt in der Familie und Gewalt gegen Frauen aufgreife, müßten mir die "Sarrazinen" erst einmal genauer erklären, von welcher Position aus sie ihre angebliche "Superiorität" beleuchten, woher sie ihre angebliche "moralische Überlegenheit" beziehen.

Ich habe eingangs den nördliche Westen Europas erwähnt. Fernhandel in den Niederlanden der Rennaissance, die blühenden Hansestädte, die Kolonialisierung der Welt, also das systematische Ausplündern unseres Planeten ... die Geschichte der Kolonialzeit erzählt von den Fundamenten unseres Wohlstandes. Verkürzt: Katholiken und Protestanten hatten schnell gelernt, sich nicht in gegenseitigen Machtkämpfen auszubluten. Sie einigten sich gewissermaßen auf eine Teilung der Ressourcen und Regionen des Erdballes.

Von den Muslimen ist mir keine vergleichbare Conquista bekannt. Auch die Herren der oströmischen Sphären können nach meiner bescheidenen Kenntnis keine derartigen Unternehmungen vorweisen.

Deutschland hatte es schließlich noch kurz zur "Kolonialmacht" gebracht, Österreich war da nicht so fix. Die Habsburger rüsteten sich schließlich für die Kolonialisierung des Balkans. Aber das war dann mit 1919 wohl erledigt.

Das wohlhabende Europa der "Sarrazinen" hat sich erst einmal in der Ausplünderung der Welt bewährt und auch von rund zwei Jahrtausenden Judenhatz nicht schlecht profitiert. Der "Große Krieg" von 1914 hatte kaum andere Motive, als Versäumnisse in der Kolonialisierung der Welt zu kompensieren. Wer hätte denn knapp nach der Jahrhundertwende ein hochgerüstetes und enorm leistungsfähiges Deutschland bedrohen können? Österreich war zwar bedroht, aber kaum von einem äußeren Feind, mehr von seiner inneren Inkompetenz, als Vielvölkerstat in der Gegenwart anzukommen.

Der Zweite Weltkrieg ist ja, polemisch verkürzt, bloß die "zweite Halbzeit" des Ersten Weltkrieges gewesen. Wiederum ein Raubzug, ein Ausplündern der Welt, wie es in der Menschheitsgeschichte davor noch unbekannt gewesen ist.

In diesen Prozessen, die der westliche Norden mehrere Jahrhunderte forcieren durfte, hat die gesamte islamische Welt, haben vor allem auch Indien und China nachrangige Positionen hinnehmen müssen. Die "Sarrazinen" und ihresgleichen scheinen davon zu träumen, daß diese nordwestliche Vorteilsposition betoniert und unerschütterlich sei.

Vielleicht war es einige Zeit so. Ich hab hier schon erwähnt, daß nach meiner Einschätzung keine Generation VOR mir so frei in so wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen sei; mutmaßlich wird das hierzulande auch keine nach mir erleben. Der "Nordwesten" wird seine Vorteile und den teilweise unredlichen Profit aus Jahrhunderten in der Art nicht erhalten können. Daran habe ich keinen Zweifel.

Das politische Personal und einige Funktionseliten meiden es, sich diesen Fragen zu stellen. Statt dessen werden lieber Feindbilder aufgebaut und alte nationalistische Stereotypen revitalisiert, werden präfaschistische Positionen erneut salonfähig gemacht. Das wird natürlich den Gesellschaften nichts nützen, nur einigen ihrer Minoritäten.

Wir sollten uns in jeder nur erdenklichen Weise dafür vorbereiten, daß Europa viele seiner liebgewonnenen Vorteile einbüßen wird, weil der Rest der Welt sicher nicht auf Dauer jenes Wohlstandsgefälle hinnimmt, das wir gerne für fast schon naturgegeben halten ...

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