21. Oktober 2009

Mein Großvater, die kleinen Handwerker, Arbeiter, Dienstboten, Keuschler im Schatten des Grimming, haben diese Leute beklagt, daß sie mit Kunst und Kunstwerken nichts zu tun bekamen, außer sie besuchten eine Kirche?

Das haben sie natürlich NICHT beklagt. Sie hatten andere Sorgen. Aber vielleicht hat es doch manchmal geschmerzt. Mein Großvater war Steinmetz. Er war ein sehr guter Zeichner, wie erhaltene Blätter belegen. Er konnte mit einem simplen Taschenmesser aus Rindenholz Dinge schnitzen, die mir als Kind wie Wunder vorkamen.

Warum tut ein Mann sowas? Als Kind hatte ich keinen Grund, mir so eine Frage zu stellen. Heute weiß ich: Es ist ein "anderer Code", eine andere Möglichkeit, wie wir einander die Welt erzählen. Bei all diesen Erzählweisen haben wir Geschmack daran, wenn es jemand besser, gewandter, mit mehr Esprit kann als simpler tickende Leute.

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Das galt genau so offenbar auch für meine Großeltern. Richard muß einst seine Cäcilie, die offenbar Gedichte liebte, mit kleinen Kärtchen überrascht haben, die er gezeichnet und ihr geschickt hatte. Das vordergründige Vergnügen am Betrachten oder Anhören von Werken ist der Beleg eines tiefer angelegten Ereignisses: Ästhetische Erfahrungen. Das heißt: Wahrnehmungs- Erfahrungen. Die sind freilich nicht bloß auf Kunstwerke ausgerichet. Geübte Wahrnehmung und verfeinerter Geschmack sind ein Angebot für alle Lebensbereiche. (Was freilich nicht besagt, ein Kunstfreund werde durch solche Erfahrungen a priori zu einem "besseren Menschen".)

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Ich hab im Eintrag von gestern die recht aufwendige Einweihung eines "Hochwasserrückhalte- beckens" erwähnt, dem auch zwei Kunstwerke zugeordnet sind. Eine eher konventionelle Heiligenstatue von Paul Pracher und eine konzeptionelle Arbeit von Markus Wilfling.

Kein Thema, das all zu sehr im Zentrum des Geschehens gestanden hätte. Wie auch? In den traditionellen Hierarchien ist meist nicht explizit, aber doch irgendwie klar, daß "Deutungshoheit" zum Geschäft der Macht gehört. Erfahrungen mit Kunstwerken, Wahrnehmungserfahrungen legen nahe, daß man seine EIGENEN Deutungen vornimmt. Kunstschaffende mischen sich praktisch ins "Deutungsgeschäft" anderer Deutungseliten ein.

Das muß auf keine LAUTE Art geschehen. es genügt, wenn es auf KONSEQUENTE Art geschieht. Die Zeichnungen und Schnitzereien meines Großvaters sind zwar nicht als "Kunstwerke" entstanden, aber sie wirken auf dem gleichen Feld: Verfeinerte Wahrnehmung und differenziertere Ausdrucksweisen. (Die vielfältigen Gegenpositionen zum Stammeln.)

Das sind nicht bloß Grundlagen künstlerischer Praxis, das sind auch politische Eigenschaften. Die Tyrannis hat keine Verwendung für solches Personal. Darum verfolgt sie derlei Menschen auch mit Ausdauer.

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Wenn diese Überlegungen etwas taugen, sollte daraus auch ableitbar sein, daß Kunstwerke keineswegs die Aufgabe haben, in irgend einer Weise sensationell oder spektakulär zu sein. Sie haben ferner nicht die Funktion, der Urheberschaft besonderen Rang zuzuweisen. Wer sich der Kennerschaft rühmt, um daraus einen besonderen Status herzuleiten, bewegt sich in die Nähe von Mißbrauch.

Es gibt eine Pop-Schmonzette von 1972, die ich bis heute liebe, ein üppig angelegtes Werk von "Jethro Tull", in dem Ian Anderson singt:

>>I may make you feel but I can't make you think.<<

So heißt es in "Thick As a Brick". Eine anregende Geste, die darauf verweist, daß zur Wahrnehmungserfahrung, also zum ästhetischen Erlebnis, dann vorzugsweise auch REFLEXION kommen möge. Denk-Akte, die überwiegend an sprachlichen Ausdruck gebunden sind ... weshalb mir die geschwätzige Phrase "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" so mißfällt. Dieses "Entweder-Oder-Getue" ist irreführend und spricht sich letztlich gegen die Reflexion aus ...

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