26. Juni 2007 Dr. Kurt
Waldheim: Ein letztes Wort
Von Gott geführt, scheide ich mit großer Dankbarkeit
aus diesem Leben. Es hat mir mehr an Jahren, mehr an Erfahrungen, mehr auch an
Mitverantwortung zugeteilt, als ich jemals gehofft hatte. Ich gehe als einer der Letzten
einer Generation, deren Lebensbogen sich vom Krieg zum Frieden, von der Diktatur zu
Freiheit, von Armut zum Wohlstand gewandelt hat.
Diesen Weg unseres Heimatlandes und unseres Kontinents
habe ich jeden Tag aufs Neue als Wunder empfunden - gerade aus dem Wissen um das, was
vorher war und in vielen Teilen der Welt heute noch traurige Realität ist. Viele meiner
Landsleute - Frauen und Männer - haben daran mitgewirkt. Aber nicht alles ist nur die
Frucht unserer Arbeit gewesen. Österreich war und ist auch ein gesegnetes Land. Umso
schmerzlicher habe ich es immer empfunden, dass wir diesen Segen nicht mit allen Menschen
- in Österreich und darüber hinaus - teilen dürfen. Dass wir auf so viele vergessen,
die in Hunger und Armut mit uns und neben uns leben.
Diese furchtbare Kluft, die ich zehn Jahre lang an der
Spitze der Vereinten Nationen ganz unmittelbar erlebt habe, hat mich bis in die letzten
Tage meines Lebens hinein bestürzt und zutiefst bewegt. Sie ist die Wurzel aller großen
Bedrohungen, die über uns liegen. Den nachhaltigen Wandel hin zu einer gerechteren Welt
hätte ich gerne noch miterlebt. Im Angesicht des Todes lösen sich alle Brüche des
Lebens auf. Gutes und Böses, Helles und Dunkles, Verdienste und Fehler stehen nun vor
einem Richter, der allein die Wahrheit kennt.
Getrost trete ich vor ihn - im Wissen um seine
Gerechtigkeit und seine Gnade. Allen, die mir beigestanden sind, die mich bei meiner
Arbeit für Österreich und für die Völkergemeinschaft unterstützt und getragen haben,
möchte ich von Herzen danken und ihnen sagen, dass ich ohne ihre Hilfe und Unterstützung
nichts bewirkt, ja nicht überlebt hätte. Meine Dankbarkeit beginnt in der eigenen
Familie und bei all jenen, die über Jahrzehnte in großer Treue um mich waren - und sie
reicht bis in die entfernten Winkel dieser Erde.
Aber auch all jenen, die mir kritisch gegenübergestanden
sind, gilt mein Gruß und meine Bitte, ihre Motive noch einmal zu überdenken und mir -
wenn möglich - eine späte Versöhnung zu schenken. Vielleicht ist auch dies durch meinen
Weggang von dieser Erde leichter geworden. Ja, ich habe auch Fehler gemacht - und
glücklicherweise viel Zeit gehabt, um sie immer wieder zu überdenken. Es waren aber
sicher nicht jene der Mitläufer- oder gar Mittäterschaft mit einem verbrecherischen
Regime. Zu prägend waren für mich die Haltung und das Schicksal meiner Familie. Im
Rückblick sehe ich die Ursachen für die zu späte Aufarbeitung des Geschehens vor allem
in der Hektik meines übervollen internationalen Lebens und - über Jahre und Jahrzehnte
hinweg - auch in meiner Abwesenheit von Österreich und Europa. Als Generalsekretär der
Vereinten Nationen war ich nahezu täglich mit Kriegen, Gewalt und politischer Willkür,
mit Millionen in Not und Verzweiflung lebender, mit verfolgten, gedemütigten und um ihre
um Rettung - unsere Erfolge und unser Scheitern - verstellte, überwucherte zu lange die
Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit.
Es war aber wohl auch jene Staatsraison, die wir junge
Nachkriegs-Diplomaten zu vertreten hatten und die uns Österreicher als "Hitlers
erstes Opfer" den Weg zu Freiheit und Staatsvertrag geöffnet hatte. Zutiefst
bedauere ich, dass ich - unter dem äußeren Druck monströser Beschuldigungen, die mit
meinem Leben und meinem Denken nichts zu tun hatten - viel zu spät zu den NS-Verbrechen
umfassend und unmissverständlich Stellung genommen habe. Ursache dafür war weder eine
zweifelhafte Grundhaltung noch irgend ein politisches Kalkül, sondern die Betroffenheit,
Kränkung, ja das Entsetzen über Inhalt und Ausmaß dieser Vorwürfe. "Übernehmen
wir die Verantwortung für unsere Fehler in einer Form, die dazu angetan ist, künftige
Fehler zu vermeiden", habe ich am 10. März 1988 - 50 Jahre nach dem
"Anschluss" an Hitler-Deutschland - in einer Fernsehansprache gesagt. Mehr denn
je bin ich heute der Überzeugung, dass alles, was wir Österreicher geschaffen haben, um
es an kommende Generationen weiterzugeben, nur dann eine Chance auf Dauerhaftigkeit hat,
wenn wir uns auch zu einem gemeinsamen Geschichtsverständnis bekennen. Wo immer ich
konnte, wollte ich Menschen versöhnen und verbinden; wollte in Konflikten Brücken bauen
und Gemeinsamkeiten stärken. Kaum eine andere Funktion war in diesem Sinn
erfahrungsreicher als die des UNO-Generalsekretärs. Umso bitterer war meine
Enttäuschung, dass ich diese globale Erfahrung für uns alle im Amt des
Bundespräsidenten meiner geliebten Republik Österreich nicht so einsetzen und meine
vielen Vorhaben nicht so umsetzen konnte, wie ich das erhofft hatte.
Vor dem Urteil der Geschichtsschreibung aber fürchte ich
mich nicht. Sie wird wissen, was war und was nicht war. Mein berufliches Leben, das
Schicksal meiner Zeit und mein Glaube haben mich viele wichtige Lektionen gelehrt. Die
Wichtigste ist so selbstverständlich und doch so schwierig, dass ich sie noch einmal in
Erinnerung rufen möchte: Wir werden nur überleben, wenn wir uns weit mehr als bisher als
Geschwister entdecken und weit fürsorglicher leben, miteinander umgehen und handeln.
Jedes Miteinander ist ein Segen. Die Generation, der ich angehöre, verlässt diese Welt.
Sie war geprägt von der Erfahrung, dass die Suche nach Kompromiss und Konsens zwischen
Menschen, Gruppen, Parteien und Nationen keine Schwäche, keine Niederlage, sondern eine
Voraussetzung für inneren und äußeren Frieden ist. Ich hoffe, dass diese Erfahrung auch
in Zukunft weiterlebt. (Quelle: "APA")
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