9. Jänner 2006

"Eine Weile ließ er seine Hand unter dem Tisch, um den Gegenstand bloß zu erfühlen und zu erraten -- dann erst zog er ihn hervor. Es war ein Buch, in einem Schutzumschlag aus braunem Packpapier."

Das ist gewissermaßen der Wendepunkt im Leben eines Arbeiters. Der für sich das Lesen entdeckt. Durch Zufall. Nachdem er unter einem Kaffeehaustisch ein vergessenes Buch gefunden hat. Ingeborg Bachmann beschrieb in der kleinen Erzählung "Der Schweißer", wie ein Arbeiter durch diese Erfahrung das gewohnte Leben nicht mehr erträgt und ... Ich glaubte diese Geschichte in "Das dreißigste Jahr" gelesen zu haben. Aber Sie steht in "Die Fähre".

Dafür fand ich in dem anderen Buch eine Kunstpostkarte mit einem Gemälde von W. Gilles: "Johannespassion". Die mir einen längst vergessenen Moment dokumentiert.

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Ich war 1980 in Berlin Gast der Dame Lubowski gewesen. Die mit Sicherheit belesenste Frau, der ich je begegnet bin. Sie hatte mir das Bachmann-Buch geschenkt. Mit den begleitenden Worten:

"Verehrter Herr Krusche, wenn Sie sich erinnern, habe ich Ihnen auch einmal von der Bachmann und ihrem ...oeuvre 'Das Dreißigste Jahr' erzählt -- hier können Sie nun in Ruhe überprüfen, was einmal auch in anderer Form sicher auf Sie einwirken könnte -- lassen Sie es sich gut ergehen -- ich wünschen Ihnen was! Herzliche Grüsse von Renée Lubowski"

Cut!

Ein Arbeiter, der, durch Lektüre angeregt, seinem Leben neue Perspektiven gibt. Dieses Motiv ist mit der Geschichte der Sozialdemokratie eng verbunden. Warum ich das erzähle? Weil ich sehr irritiert bin. Am 1. November 1918 stand in der "Arbeiter Zeitung":

"Maler Egon Schiele gestorben. Der Wiener Maler Egon Schiele, ein noch junger Künstler, dessen in der Sezession ausgestellten Bilder außerordentliche Anerkennung fanden, ist kurz nach seiner Gattin an der Grippe gestorben."

Warum ich das erzähle? Weil ich sehr irritiert bin. Am 6. Dezember 1921 stand in der "Arbeiter Zeitung":

"Eine Egon Schiele-Ausstellung ... mit welcher die Neue Galerie (Grünangergasse Nr. 1) eröffnet wurde ... Die sozialdemokratische Kunststelle veranstaltet am Samstag, den 9.d. vormittags eine Führung durch die Ausstellung ... Regiebeitrag 2000 Kronen ..."

Warum ich das erzähle? Die "Arbeiter Zeitung" war das Organ der Sozialdemokraten. (Quelle: Klusacek & Stimmer: "Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte", 1918-1928")

Diese beiden Stellen lassen erahnen, daß man sich seitens der Sozialdemokratie vor über 80 Jahren dafür engagierte, den Menschen Zugänge zu zeitgenössischen Kunstwerken zu ebnen. Auch wenn die Werke so umstritten und angefochten waren, wie jene Schieles.

Während also andere "Skandal!" schrien, setzte man in der Sozialdemokratie auf Anschauung und Auseinandersetzung. Das hat sich möglicherweise geändert. Als Josef Cap das Diktum der "Kronen Zeitung" aufgriff, um dem ÖVP-Kanzler Schüssel die angebliche Finanzierung von angeblichen "Porno-Plakaten" um die Ohren zu schlagen, waren andere SPÖ-Größen schon aufgewärmt.

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Ich hab anfangs geschrieben, es gehe hier nicht primär um die "Freiheit der Kunst", sondern: "... um Definitionsmacht und den Zugang zu wie den Zugriff auf öffentliche Räume und Diskurse." (Was ja Rahmenbedingungen der Freiheit der Kunst sind.) Ich hab gefragt: "Was tun die SPÖ-Leute so leichtfüßig auf dem Trittbrett der Kronenzeitung?"

Die Antwort lautet: "Wahlkämpfen." Die SP-Granden haben kein Problem, das Kunstfeld zu beschädigen, wenn ihnen das Stimmen bringt. In der "news"-Ausgabe vom 5. Jänner kam Klartext.

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Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos setzt zum Jahresauftakt Markierungen, daß ich ratlos bleibe, wo er die "Freiheit der Kunst" verteidigen möchte, wenn er in Gasthäusern nachfragt, ob für die Präsentation von zeitgenössisches Kunstwerken Steuermittel verwandt werden sollen.

Wofür er (laut "news") optiert, hieße ja, konsequent weitergedacht, zeitgenössische Kunstwerke sollten wieder dem Interesse der Eliten überschrieben werden, die sich das für ihr privates Geld in den privaten Salons ansehen könnten.

Aus dem öffentlichen Raum und öffentlich zugänglichen Präsentationsräumen würde dann, als Agenda der Republik gestrichen, die Vermittlung zeitgemäßen Kunstschaffens wieder verschwinden. Und wir kämen ... uuups! ... in welchem Jahrhundert an? Wann war denn das, als Kunstwerke nicht mehr bloß dem Adel verfügbar waren? Ja genau!

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Eine Konsequenz der Französischen Revolution war die Öffnung des Louvre im Jahre 1793. Als dem nunmehr ersten öffentlichen Museum Frankreichs. Die Kunstsammlung, die auf das 14. Jahrhundert und den Duc de Berry zurückgeht, sollte nicht mehr bloß den Adeligen gehören, sondern dem Volk zugänglich sein.

Aber ich schweife ab.

Aus der "Kleinen Zeitung" von gestern erfuhr ich, daß nun auch Wiens Bürgermeister auf die aktuelle Linie eingeschwenkt hat. Wobei man fragen möchte, ob es denn noch etwas wie eine "sozialdemokratische Kunststelle" gibt. Und ob dort vielleicht jemand für den Jahresauftakt mal beginnen möchte, sich mit dem Thema "Konzept-Kunst" vertraut zu machen. Es könnte ja nicht schaden, bei den geäußerten politischen Ansprüchen auch im Kunstverständnis langsam wieder in der Gegenwart anzukommen. (Was schon 1921 geklappt hat, könnte erneut gelingen.)

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