26. März 2005 Gestern.
Karfreitag. Der Tag, der an den Tod des Nazareners am Kreuz erinnert. Es gab kaum eine
schlimmere Art der Hinrichtung als die Kreuzigung. Der Nazarener hatte also zweifaches Grauen zu durchlaufen
...
Ich habe unlängst
(im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Albanern im Kosovo) geschrieben, daß den
Massakern meist die Etablierung eines Opfermythos' vorausgeht. Gibt es eine wirksamere
Legitimationsmethode für Täter? Der Opfermythos nützt perfekt.
Im Blut zu waten ist gewiß kein leichter Weg. Nicht mehr
zu spüren, was man anderen antut, das schafft niemand von heute auf morgen. Wenn die
Massaker beginnen ... Die Attacken sind oft genug auch für die Täter sehr gefährlich.
Oder, wie wir durch die Hisbollah wissen, ohnehin tödlich, weil der Täter zugleich die
Waffe ist.
Der gestrige Karfreitag verklärt den Nazarener zum
Erlöser. Im "zweiten Grauen" des Tods am Kreuz . Was war das "erste
Grauen", durch das er mußte? Es heißt, er habe sich geopfert, um die Welt zu
retten. Aber aus der Nähe betrachtet scheint es doch ETWAS anders gewesen zu sein. Und
das hat eine Vorgeschichte.
Genesis 22 beschreibt "Abrahams Opfer". Hier wird
die Loyalitätsfrage zwischen zwei Männerfiguren geregelt. Zwischen Abraham und seinem
Gott. Sohn Isaak war demnach der Erste, über den wir erfahren, daß er dieses
"erste Grauen" durchlaufen mußte. Daß der eigene Vater ihm ausrichtet läßt:
"Ich opfere DICH für ein höheres Prinzip." (Anstatt seinem Herrn auszurichten:
"Ich bin meinem Kind, meinem Schutzbefohlenen verantwortlich. Nimm mein Leben oder
verwirf mich, denn ich kann das nicht brechen!")
Vater und Sohn haben einen weiten Weg vor sich, vom
schützenden Heim zur Opferstätte. In Genesis 22,10 heißt es:
"Schon streckte Abraham seine Hand aus und nahm
das Messer, um seinen Sohn zu schlachten."
Genesis 22,11:
"Da rief ihm der Engel des Herrn vom Himmel her
zu: "Abraham, Abraham! Er antwortete: Hier bin ich."
Genesis 22,12:
"Jener sprach: Streck deine Hand nicht gegen den
Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, daß du Gott fürchtest; du
hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten."
Aber was nutzt dieses späte Eingreifen des Engels? Die
Klinge steckt ja schon in Isaaks Herz, denn SEIN Herr, der Vater, hat ihn zum Opfer
freigegeben, hat ihn verlassen. Es ist das gleiche, was der Nazarener erleben wird, der
dabei kein Kind mehr ist, sondern längst ein erwachsener Mann ... und dennoch daran
verzweifelt.
So erzählt schon das erste Buch des Alten Testaments über
den Gründungsmythos des Terrorismus. Denn das ist die Art, wie man zornige junge Männer
im Herzen ausstattet. Was mag in Isaak seit dem Aufbruch von zuhause bis zu diesem
Augenblick vorgegangen sein?
Er hat erfahren:
Mein Vater, in dessen Armen ich sicher sein sollte, beschützt mich nicht, ER beendet mein
Leben. Das ist die erste Lektionm für einen Terroristen. Der Vater behauptet: Ich opfere
dich für ein höheres Prinzip, die Welt wird dadurch besser werden. (Das ist das erste
Grauen des Nazareners.)
So spricht aber kein Vater. So spricht ein Kommandant. So
spricht ein Führer: "Du bist NICHTS, das Prinzip ist ALLES".
Wir kennen diese Botschaft. Weil sie über Jahrtausende nie
verklungen ist. Daraus wurde dann auch die erste Säule des Faschismus errichtet. Und wenn
sich heute ein wütender junger Mann Sprengstoff auf den Leib packt, los zieht um zu
töten, sich und andere, dann VERKÖRPERT er genau dieses Prinzip.
Abraham hat in unserer Kultur ein radikales Gegenüber.
Antigone. Die Tochter des Oidipus hat dem Souverän Kreon getrotzt. Sie hat in diesem
selbstgewählten Akt des Ungehorsams ihr Leben eingesetzt. Da zeigt sich der grundlegende
Unterschied zweier möglicher Botschaften.
Ein Sohn wird dem Herrscher geopfert.
Eine Tochter widersetzt sich dem Herrscher.
Zwei grundverschiedene Anlässe, sein Leben zu verlieren.
Ich bin kein Bruder der Antigone, sondern ein Sohn des
Isaak. Unsere Eltern schweigen über diese Dinge. So sehe ich die Mutter, wie sie mit
kaltem Leib und kaltem Herzen hofft, daß die ganze Geschichte während der ihr noch
verbliebenen Lebenszeit nicht auffliegt.
So viel Schweigen. Über Gewesenes. Darüber daß kein
Vater und keine Mutter ihre Kinder zu opfern haben, sondern (ganz im Gegenteil) für sie
einzustehen und notfalls der Herrschaft zu trotzen. Aber genau davon erzählt mir die
Passion nichts.
Dieses Land verehrt den Nazarener und kennt die Antigone
nicht ...
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