11. Mai 2004

Der gestrige Abend war dann dem Rioja und der Zeitungslektüre gewidmet. „Der Standard“ titelte letzten Freitag im Sportteil: „Der Läufer läuft, Schuh denkt mit“. Das finde ich sehr beunruhigend. Ich würde keinen Schuh haben wollen, der womöglich nach einigen Runden über die Felder schlauer ist als ich.

Am selben Tag sprach Eduard Steiner mit Jelena Bonner, die ich völlig aus den Augen verloren hatte. Ich war ganz erstaunt, die große russische Menschenrechtlerin nun als 80jährige Frau zu sehen. Ich hatte sie so ganz anders in Erinnerung. An der Seite von Andrej Sacharov. An einer stelle meinte die Bonner: „Kurz: Es gibt keine Demokratie in Rußland.“ Steiner fragte: „Wie konnte es so weit kommen?“ Bonner: „Ich bin nicht Gott, um darauf antworten zu können.“ Es muß also verzwickt sein.

Am Donnerstag zitierte das Blatt Kriegsminister Donald Rumsfeld zu den Folterskandalen rund um seine GIs: „Inakzeptabel und unamerikanisch“. Inakzeptabel auf jeden Fall. Unamerikanisch? Was meint der barbarische Falke da? Wer pfeift denn auf Völkerrecht und Justiz? Wer pfeift denn auf kulturelle Differenz und mögliche Klugheit im Umgang mit Kontrahenten?

Naja, so wie Putin mit Tschetschenien sein Vietnam hat, beschert Rumsfeld seinem Land mit dem Irak nun eine Neuauflage dieses Desasters. Bloß hat sich die Art des Krieges geändert. So sieht auch My Lai heute anders aus. Bravo, Jungs, danke auch an Toni Maroni Blair, der härter lächelt als unsere Außenministerin. Jetzt wäre unmißverständlich klargestellt, daß wir die „bloßfüßigen Araber“ als Feindbild ruhig entlassen können.

Denn gegenüber diesen Klischees nach dem Motto „Selbstdefinition durch Feindmarkierung“ tritt nun „Real White Trash“ als ganz reale Barbarenvariante in den Rang der Leitikone westlicher Welten und westlicher Werte.

Ich erfuhr nebenbei auch, daß Pablo Picassos „Garcon à la pipe“ für rund 85 Millionen Euro versteigert wurde. Was eine sehr erstaunliche Nachricht ist. Ich muß mal ausrechnen, was ein durchschnittliches Leben bei uns so kostet. Damit man überhaupt eine Vorstellung bekommt, was das für eine Art Transfer ist, der ja nun nicht kommunalen Zwecken, sondern einem privaten Vergnügen dient.

Fünf Tage Polen (2)

Der Auftakt, unter bewölktem Himmel nach Wien. Ich hatte auf dem Grazer Hauptbahnhof noch den Taxifahrer getroffen, der vor einigen Tagen neben mir gerammt worden war. Ich brachte ihm Foto von der Trümmersituation mit, er bezahlte meinen Espresso, mein Mädchen hatte sich kurz frei genommen, um mich zum Abschied noch einmal zu umarmen.

Die Straßenschlachten. Ich hatte meinen Wagen auf dem Park and Ride-Terrain des Gleisdorfer Bahnhofes hinterlassen. Dort war ich am Fahrzeug eines zivilen Kriegers vorbeigekommen. Einer jener überheblichen Stutzer, der mit dem Totenkopf auf der hinteren Ablage sicher nicht ausdrücken will, er sei ein Student der Medizin. (Ich sollte einige seiner internationalen Kollegen auch in Polen antreffen.)

log102a.jpg (16823 Byte)

Im Zug „Croatia“, der Zagreb mit Wien verbindet, hatte ich den wunderbaren Geschmack von feiner Schokolade und Marillenbrand im Mund. Meine bevorzugte Marke. Vielleicht weil der Geschmack mich daran erinnert, wie es sich anfühlt, wenn ich mein Mädchen küsse.

Als Reiselektüre habe zwei Bücher mitgenommen. Eines davon die bewegende Schilderung des Karl Markus Gauß, der „Die sterbenden Europäer“ besucht hat. Was mit einem Aufenthalt in Sarajevo beginnt, wo das Muslimische, das Jüdische, das Römisch Katholische und das Orthodoxe miteinander geklungen haben. Was ganz gewiß mehr Europa zu zeigen mochte als das Geblöke, das mir zur EU-Erweiterung am 1. Mai zugetragen worden ist.

log102b.jpg (19970 Byte)

Gauß hatte dort Dzevad Karahasan getroffen, der einen Teil seiner Zeit in Graz verbringt und beim ersten NCC (NetArtCommunityCongress) mein Gast war. Gauß erinnerte daran, wie serbische Soldaten die Nationalbibliothek in Sarajevo in Brand geschossen haben. Wobei bedeutende Zeugnisse der Kulturgeschichte Europas der Menschheit für immer genommen wurden ... Was mich daran denken läßt, daß die Boys von George Bush nicht in der Lage gewesen sind, ja nicht einmal bereit waren, die Plünderungen des Nationalmuseums in Bagdad zu verhindern. Oder wenigstens einzudämmen.

[Journal-Übersicht]
[The Slask-Site]


[kontakt] [reset]

20•03