Nationalismus
Herr Qigong kam jüngst in meine Gasse, um mich zu belehren. Etwa
bezüglich Nationalismus. Das klang dann so: „Reichsfahnen
müssen nicht sein, auch der andere Schmarrn vom Kaiserreich
Deutschland. ABER - erkundigen Sie sich warum diese Fahnen
geschwungen werden.“
Hab ich ja. Mich erkundigt.
Seinerzeit. Herr Qigong: „Mach Sie sich schlau bevor Sie
fremdes Gedankengut übernehmen. Suchen Sie den historischen
Hintergrund. Und ja Nationalismus - nicht jeder Fußbalanhänger
so radikal er auch sein mag - muss kein Nationalsozialist sein.
Da ist noch ein weiter Weg dorthin - auch auch ein schmaler
Grat. Jedoch ist das Wesen diametral positioniert.“
Was der Sensei hier rausschiebt, ist
schlicht Mumpitz. Ich muß annehmen, er hat vom Thema keinen Tau.
Weshalb reißt er dann die Klappe auf? Ich nehme an, da war so
ein Gefühl, das mußte einfach heraus. Aber! Nationalismus. Ich
hab mich dem Thema seinerzeit über Kant angenähert.
Es
heißt zwar, Immanuel Kant würde man nicht lesen, sondern ins
Deutsche übersetzen, aber da gibt es diese feine kleine Schrift,
in der er geradezu luftig und leicht verständlich formuliert
hat; auch für Ungeübte.
Sein Aufsatz „Beantwortung
der Frage: Was ist Aufklärung?“ stammt aus dem Jahr 1784.
Diese Überlegungen zum „Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit“ markieren einen Prozeß, in dem
wichtige Anregungen stecken, um das eigene Verhältnis als
Individuum zur Gemeinschaft zu überprüfen.
Das macht
schließlich einen zentralen Aspekt von Nationalismus aus: wie
sich ein Individuum zur Gemeinschaft verhält, welche
wechselseitige Beziehung das sein möge.
Bei Kant steht schon im ersten Absatz die Empfehlung „Sapere
aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
[Quelle]
Ein Akt, der dem Herrn Qigong in seiner Belehrung noch nicht
nachgewiesen werden kann. Im Nachdenken über den Nationalismus
ist dieser Kant’sche Essay ein guter Auftakt.
Anschließend empfehle ich gerne einen Vortrag, den Ernest Renan
am 11. März 1882 in der Pariser Sorbonne gehalten hat: „Was
ist eine Nation?“ Dabei kann nicht verschwiegen werden, daß
sich in seinen Schriften allerhand antisemitische Motive finden,
aber diese Rede ist darüber aufschlußreich, wie damals über das
Thema gedacht werden konnte.
Darunter die markante Idee vom „täglichen Plebiszit“,
also eine politische Deutung des Begriffs, keine kulturelle,
ethnische Deutung. Der Satz lautet: „Das Dasein einer Nation
ist - erlauben Sie mir dieses Bild - ein tägliches Plebiszit,
wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des
Lebens ist.“ [Quelle]
Es lohnt sich, nach solcher Einstimmung jüngere
Betrachtungen zu beachten. Für mich war vor Jahren ein Werk von
Eric Hobsbawm sehr aufschlußreich: „Nationen und Nationalismus.
Mythos und Realität seit 1780.“ Wer das in aktuellerem
Zusammenhang einordnen möchte und Freude am Lesen hat, wird auch
Hobsbawms üppiges Buch „Das Zeitalter der Extreme.
Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts.“ sehr anregend finden.
Ernest Gellners „Nationalismus: Kultur und Macht“
fand ich ebenfalls erhellend. Wer das alles stärker mit
Österreich verknüpft sehen möchte, könnte für diese und andere
Fragen Ernst Bruckmüllers „Sozialgeschichte Österreichs“
schätzen. Damit hat man ein gutes Fundament in der Deutung
verschiedener historischer Prozesse.
Bruckmüller ist
ebenso angenehm zu lesen wie Norbert Mappes-Niediek. Dessen Buch
„Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus
lernen kann.“ halte ich für unverzichtbar, wenn man den
jüngeren Teil europäischer Geschichte besser verstehen will.
Es ist in all dem nicht nötig, sich einen intellektuellen
Gewaltmarsch aufzuerlegen. Die genannte Lektüre wäre sicher
innerhalb eines Jahres ganz entspannt zu bewältigen und wenn man
sie so anregende findet wie ich, geht es auch flotter.
Danach müßte man über fahnenschwingende Fußballfans und
diametral positionierte Wesen nicht mehr so hilflos
herumschwafeln…
Der Dialog mit Herrn Qigong
+)
page22_qigong.doc
(53 kb)
+) Die Belehrung