[Seite #1] [...] Krusche: Am Rande dieser Trassen spielten sich
die Inszenierungen von Zivilisation ab. Abseits davon die Wildnis. Zentren und ihre
Peripherie. Provinz als Rohstoffquelle. Nord-Süd-Gefälle. Paris Wien
Budapest. Das war Zivilisation. Beograd war dagegen bloß Umschlagplatz auf dem Weg nach
Istanbul. Die Rohrstoffe dieser Räume sind
längst ausgebeutet. Verblieben sind die Menschen. Und ihre Seelen. Die
Zivilisationszentren haben sich gleichermaßen abgenützt. Auch dort sind Menschen
verblieben. Und ihre Seelen. Die Erinnerungen hier wie dort. Da verbindet uns vielleicht
mehr als wir dachten.
Diese Orte der Erinnerungen bespielt Krusche auf
unterschiedliche Art. Zum Beispiel, indem er eine Buchseite aus seiner speziell
zusammengestellten Handbibliothek aufgreift, etwas aus dem im Buch Geschehen symbolisch
auf die Strecke überträgt. Oder indem er die Arbeit eines Künstlerkollegen, dem er noch
nie real begegnet ist (Teleworking), der Natur überlässt. (Hier beispielsweise der
Junction Flyer von Johannes J. Musolf.) Mitunter mehrere Jahre. Wobei Krusche
beobachtet, was damit geschieht.
Das Kunstwerk wird dem Zerfallsprozess ausgesetzt. Und der
Künstler seiner Deidentifikation. Hier entsteht eine Kunst ohne Name, ohne Anfang und
Ende. Eine Reise. Damit man diese Reise beginnen kann, sollen alle Vorstellungen von
Alltagsrealität aufgegeben werden. Der Künstler gibt so auch seine Rolle im Kunstbetrieb
auf. Um die Kunst in sich zu pflegen. So ähnlich meinte Stanislawski: Mann soll
nicht sich in der Kunst suchen, sondern die Kunst in sich selbst.
Wenn man sich von all diesen Prämissen befreit, ist man
gewissermaßen mit Krusche auf den Schienen unterwegs. Neue soziale Formen entwickeln sich
aus dieser neuen Kunstökologie. Die Interaktion zwischen dem Menschen und
seiner Umwelt kann sich in einem Matrixsystem von Ereignissen und Erzählungen formen.
(Krusche: The Narration Continues.) So bildet die Kunst ein eigenes System,
das aber mit Leben verflochten ist. Diese Kunstpraxis ist keine Darstellung oder
Illustration, sie ist eine erlebte Wirklichkeit.
Wenn sich jemand auf so etwas einläßt, ist er in Lage
etwas zu tun, ohne es für die Ewigkeit zu hinterlassen. Die Zeit löst ohnehin alles auf.
Bis es irgendwann jemand anderer, vielleicht wie einen gebrauchten Handschuh, wieder
findet.
Krusches Umgang mit der Zeit berührt hier die Fragen: Wie
fließt die Zeit? In welche Richtung? Robert Musil sagte: Der Zug der Zeit ist ein
Zug, der seine Schienen vor sich herrollt.
In diesem Kontext deute ich auch die künstlerische Praxis
des Moskauer Konzeptualisten Andrej Monastyrskij und der Gruppe Kollektive
Aktionen 1). Sie verreisen mit dem Zug
aus der Stadt 2), um ein leeres Feld zu
betreten. Ein Areal, das keine Geschichte oder ihre Interpretationen kennt, kein Wissen
und keine Lehre besitzt. Die menschenleere Natur. In welcher durch das Eintreten der
Reisenden 3) deren eigene Erinnerungen das Feld füllt und ihnen ins
Gesicht zurückschauten.
Wie es Musil ausdrückte, entsteht bei den
Kollektiven Aktionen wie bei Krusche der Eindruck eines kreisförmigen
Zeitverlaufes. Momente, in denen Bekanntes zu kippen beginnt. Sich in einer anderen
Historie findet. Auf den Schienen oder auf einem Feld
im Nirgendwo. [Zurück zu Seite #1]
1) Kollektive
Aktionen, Gruppe der Moskauer Konzeptualisten, die sich 1976 formiert haben. Andrej
Monastyrksij ist einer von Mitbegründer der Gruppe und eine ihrer markanteste Personen.
2) Reise aus der Stadt ist ein achtbändiges Werk, das die Gruppe
Kollektive Aktionen im Jahr 2005 herausgegeben hat.
3) Die Gruppe verwirklichte zwischen 1976 und 2005 über 80 Aktionen auf leeren Feldern in
der Umgebung Moskaus. |