Erinnerung: Orte im Nirgendwo / Mirjana Peitler-Selakov

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(Eine Hommage an „Aus der Stadt Reisende“)

Was macht eine Seite aus? Die Druckseite auf einem Blatt Papier oder die HTML-Page auf einem Computerbildschirm haben etwas Gemeinsames. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen Code und Schnittstelle. Die Codes befinden sich auf einer Oberfläche, welche Teil eines Vermittlungsmechanismus ist. Eines Apparates, der diese Codes überträgt, ordnet und gleichzeitig durch Codes bestimmt wird. Neben den sehr verschiedenen Produktionsweisen, die beide unterscheidet, Papier / Bildschirm, ist eine Seite eine Art Schaltbegriff. Der es ermöglicht, im Sinne einer Übertragung einen Austausch zwischen Buch und Computer herzustellen.

Die Schnittstellen und Codes sind Teile der Praktiken, die man als „Technologie“ und „Diskurs“ bezeichnen kann. Die Praktiken des Erzeugens von Schnittstellen und des Sich-Einschreibens verschmolzen in einer Form, die man „Seite“ nennen kann. Es könnte auch eine andere Form sein. Wichtig ist nur, daß es eine Verkörperung gibt, die erkannt werden kann. Und es bedarf eines Betrachters, eines Lesers, der diese Verkörperung erkennt.

Aber der Blick des Lesers fällt nicht nur aus einer Richtung auf die Seite. Die Seite eröffnet zugleich einen „Spiegelraum“, der zu einem sozialen Feld wird. Sie ist Teil des Wahrnehmungsprozesses. Sie ist bewohnbar und bewohnt. Sie schaut zurück.

Seiten sind äußere Fassaden diverser diskursiver Praktiken, Verkleidung der Gedanken. Sie sind wie interaktive Oberflächen oder Repräsentationen, die neue Räume eröffnen, welche sie zuvor nur repräsentiert haben.

So entsteht ein System von Schnittstellen, Codes und Verkörperungen, die untrennbar mit einander verknüpft sind, die in eine komplexe performative und prozessuale Schleife münden. Mathematisch gesehen handelt es sich hier um eine Form endloser Ketten, wobei diese Ketten verschiedene andere Ketten von Wissens- und Handlungsfeldern darstellen. Jede der Verkörperungen besetzt ein Teil des Raumes, gleichzeitig aber generieren sie die leeren Zwischenräume. Ein Grund in die Tiefe zu gehen, wo es aber weder Raum noch Zeit gibt.

Solche Seiten und Systeme zu generieren hält Martin Krusche für seine künstlerische Aufgabe. Nun sind diese bei ihm ab and zu in die Horizontale von Bahngleisen umgelegt. Die Hierarchien der Links und Systeme verschwinden dann. Die ordnende Kraft verliert ihre feste Position, kann nun den Prozeß nicht mehr steuern.

Eine Seite / Page schafft einen Raum. Wie findet man Zugang zu einer Seite? Wie orientiert man sich? Wie bestimmt man sie? Diese Fragen öffnen weitere Fragen. Wie findet man Zugang zu einem Raum? Wie orientiert man sich dort und wie bestimmt man ihn? Diese Fragen stellt sich Krusche in seiner Schienen-Matrix, die er auch real (physisch) betritt.

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Einer der Gründe für diese Wanderungen sieht Krusche in seinem Misstrauen gegenüber den von unserer Kultur vorgegebenen Realitäten. Er nimmt die bekannten Routen, welche alltäglich benutzt werden. [...]

input07b.jpg (24116 Byte) [...] Wir alle wissen, wie eine Eisenbahnstrecke zwischen A und B in einer hügeligen Landschaft ausschauen kann. Doch Krusches Strecken erleben durch kleine Aktionen, die er auf ihnen realisiert, eine Transformation. Sie verlieren die ihnen zugeschriebenen Stereotypen. Die Routen bekommen ein zweites Leben.

Krusches Wanderungen verlangsamen diese Strecken. Im Vergleich zur Geschwindigkeit eines Zuges, der ab and zu an ihm vorbeifährt. Mit dem Rhythmus der verlangsamten Bewegung, die nur vom Wetter beeinflußt werden kann, mit der Entfernung von bewohnten Orten, wächst die Distanz zur Alltagsrealität.

Aber auch, im übertragenden Sinne, die Distanz zur eigenen Geschichte und Kultur. So wird versucht, das Eigene von außen zu erfahren: Draußen, auf den Schienen, erfolgt eine Wahrnehmungsveränderung von Raum und Zeit.

Grenzen verschieben sich. Der Blick des Künstlers richtet sich ebenso nach innen wie auf die überschaubaren, unspektakulären Dinge. Unter seinen Füßen zerfällt unmerklich eine Welt, die er aber nicht zerfallen läßt:

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Eine toter Handschuh, den ein Arbeiter irgendwann auf der Strecke verloren hat. Ein toter Vogel. Zeichen der Anwesenheit eines anderen Lebens.

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Die zwischendurch kargen Landschaften sind Folie für das Verborgene. Sie sind für den Künstler die Grenzzonen zwischen Kulturen, zwischen großen Geschichten. In ihrer Funktion als „Transiträume“. Im realen und im übertragenden Sinn. So sind für Krusche die Schienen (und Zwischenräume) von einem Ort zum anderen zugleich soziale Räume, die wirtschaftlichen und politischen Interessen unterliegen. Die Bahnstrecken sind Verweise auf frühere Machtverhältnisse und deren Projekte. Das Bahnnetz ist materieller Ausdruck von vollzogener „Zivilisationsarbeit“.

[... ] [Seite #2]

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