Langsamkeit Elisabeth List betonte, daß Langsamkeit zu
ihren grundlegenden Zügen gehöre. Langsamkeit. Ich höre selten jemand über Langsamkeit
reden. Geschwindigkeit ist ein zu aufdringliches Thema. Dieses zentrale Motiv der
Industrialisierung, von dem wir zutiefst geprägt sind. Daß sich Abläufe rationalisieren
und beschleunigen lassen. Eine Maschinenmetapher, die sich als Lebenskonzept empfiehlt.
Seit so vielen Jahrzehnten im alltäglichen Gebrauch, daß sie für naturgegeben gehalten
werden möchte.
Dampfmaschinen. Neue Schiffe. Maschinell
betriebene Webstühle. Automobile. Flugzeuge. Transatlantikkabel. Binärcodes.
Atemlosigkeit. Beschleunigung und Massierung. Welchen Eindruck mögen im Ersten Weltkrieg
die wassergekühlten Maschinengewehre auf die mit Repetiergewehren bewaffneten
Infanteristen gemacht haben?
Tschaikowskys Violinkonzert Opus 35.
Versteht man derlei unter Geschwindigkeit? Selbst ein bloß halbgarer Autonarr weiß: der
Lambo ist vulgärer und schneller als der tussige Ferrari. Es klingt Miura. Diablo. Murcielago. Die Namen legendärer
Kampfstiere. Was sind das für Geschichten?
Die einen steigen in Vehikel, um Tempo zu
machen. Andere sind selbst das Vehikel dafür. Der Speedfreak tankt verbotene Substanzen
und beschleunigt auf doppelte Schallgeschwindigkeit, bis die Synapsen durchbrennen. Wer
erinnert sich noch an Canned Heat´s Lamento über Amphetamine
Annie und den Warnruf Speed kills? Offenbar niemand. Darum haben in
Österreich die Christlichsozialen diesen Slogan auf ihre Banner geschrieben. Als Aussage
zu gesellschaftlichen Gegebenheiten. Diese Leute pflegen eine Art inverse Geschwindigkeit.
Rund hundert Jahren ihres Bestehens haben sie gebraucht, um endlich politische Relevanz zu
erlangen. Da man auf die damaligen Modernisierungskrisen nicht angemessen zu reagieren
verstand, mußte man bloß die Zeit bis zur nächsten großen Krise dieser Kultur
aussitzen.
Dazu hab ich nichts weiter zu sagen. List
spricht von Langsamkeit in ganz anderem Sinn und scheint diese in eine gedankliche
Präzision umzusetzen, bei der mir die Synapsen durchbrennen würden. Ich hab keine
Ahnung, ob solche Genauigkeit zu den konstituierenden Eigenschaften einer Philosophin
gehört. Aber ich erinnere mich an einen Seufzer von ihr: Ich sollte nicht so viele
Bücher lesen. Ihre Genauigkeit ist eine lebenslange Fahrkarte in die Uferlosigkeit.
Unter anderem habe ich also dieses Bild von ihr. Eine präzise Frau, die immer nur kleine
Schritte macht, unendlich viele, in der Uferlosigkeit. Darin verbirgt sich ein großer
Bogen. Das verlangt eine Art von Mut, die ich nicht einmal erahne.
Für Donnerstag hatte ich mich mit List
verabredet. Da klang das Thema öffentlicher Raum gerade stark, in das ich
mich auch mit Monika Mokre verheddert hatte. Unsere Email-Korrespondenzen quollen manchmal
aus allen Schächten, um diese Motive greifbarer zu machen. Was heute das
Politische sei, wo sich doch unsere Raumkonzepte in der neuen Mediensituation
völlig verändert haben. Das Öffentliche und das Private als
vielleicht verlorene Kategorien? Wie funktioniert heute Repräsentation?
Mokre: >>es geht mir um
unterschiedliche konzepte von kollektividentitaeten und wie die sich auf politische
repraesentation auswirken. ausgehend davon, dass das klassische parlamentarische modell
darauf beruht, dass es im politischen um verhandelbare interessen geht, das wird aber
durch den anspruch auf vertretung kultureller identitaeten, gender-identitaeten etc. zum
teil konterkariert.<< Wir haben also reichlich Gelegenheit, uns zu verlaufen. Es ist
wirklich knifflig. Darum reden wir ganz gerne zwischendurch von Raum und von
Raumkonzepten. Da läßt sich eventuell schneller etwas dingfest machen. Eventuell!
Lists Philosophie vom Leben als Bewegung
reicht hier mitten hinein. Sie sagt, daß im Bewegen zur Welt hin sich diese Welt erst
entfalte. Und das ist keinesfalls metaphorisch gemeint. Sie beschreibt die Bewegung des
Lebendigen: In seinen Funktionskreisen von Nahrungssuche, Flucht vor Gefahren und
dem Begehren des Anderen. So entstehen aus den Bewegungen des Lebendigen, aus seinen
Rhythmen und Zyklen die Konturen des gelebten Raums. List meint: Als gelebter
Raum ist unsere Welt das Ergebnis unserer Weise, sie in alltäglichen Lebensvollzügen als
ein Gegenüber zu erzeugen. Eben das macht uns zu Subjekten, daß wir eine Welt haben.
Handeln. Aneignen. Das sind politische
Momente. List hatte vorgeschlagen, daß wir uns in der Neuen Galerie Florian
Rieglers Vortrag über sozialen Raum anhören. Also war ich auf dem Weg nach Graz.
Freilich bin ich in Gedanken schon sehr bei der vor mir liegenden Reise nach Rußland
gewesen. All die Bilder. Die Klischees. Sätze wie Der Russ´, der kommt. Auch
wenn er nicht gekommen ist. Nicht von sich aus. Bloß diese beiden Male, weil den Herren
Napoleon und Hitler ein Teil Europas zu klein schien. Wir hatten immer irgendwelche Slawen
zur Hand, denen sich was anhängen ließ. Die in Position gestellt werden konnten, wenn
Mitteleuropäisches Mittelmaß ein Ziel brauchte, um sein Selbstwertgefühl an der Idee
von der Verteidigung des Abendlandes aufzurichten.
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Philosophin Elisabeth List in der
Uferlosigkeit des Erfahrbaren.
Ich bin kein Speed-Freak, sondern
ein Drehmoment-Junkie. Da reden wir von Schubkraft. Aber langsam wird das Teil davon auch
nicht gerade.
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Elisabeth List:
"Leben ist
Bewegung"
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