Erzählen, Überschreiten, Verknüpfen, Versöhnen

von Walter Grond

 

Transkription der Selbstdarstellung Walter Gronds am 29.6.2001 im Collegium Helveticum/ ETH Zürich, wo er im Frühjahr 2002 der literarische Gast sein wird. Ein persönlicher Reiseführer durch den [house] Salon

 

Ich war vor ca. 25 Jahren das erste Mal in Zürich. Ich kam damals von Prag – ich las gern Franz Kafka und James Joyce und hatte die Idee, man müsste diese beiden Autoren versöhnen. Also fuhr ich nach Prag und dann nach Zürich, suchte alle möglichen Lebensorte auf, und daraus entstand  mein erster Roman, Landnahme, der 1984 erschien. Und solche vielleicht etwas eigenartig anmutenden Versöhnungen begleiten mich in vielem, was ich tue; – die Sehnsucht danach, Dinge, die weit auseinanderliegen, zusammenzubringen, weil ich Parallelitäten, Kooinzidenzen zu erkennen meine.

Ich wuchs in einem katholischen Klosterinternat auf – wie viele österreichische Autoren meiner Generation –, ich sollte Priester werden, schrieb dann  mit 13, 14 Jahren Gedichte und Dramen, um mich der Internatsenge zu erwehren, wie viele österreichische Autoren meiner Generation. Davon übrig blieben zwei Denk- und Verhaltensweisen: zum einen der Wunsch zu erzählen. Erzählen ist ja auch eine Form von Dekonstruktion, man begibt sich in eine Situation und weiß, dass man sich wieder aus ihr herausbegeben, sie mit möglichst kühlem Blick von aussen beschreiben wird. Das betrifft Beziehungen ebenso wie Ereignisse, und dieses spezifische Außenvorbleiben ist vielen Erzählern gemeinsam. Man lebt als ob sozusagen, das Erzählen hat den Vorrang. Der Erzähler, der sich in ein Ereignis begibt, um etwas zu erleben, konstruiert also die Ereignisse mit, über die er erzählen wird. Er lebt die Unschärferelation, über die Wissenschafter nachgrübeln, er ist nicht unschuldig und weiß darum. Die Qualität seiner Erzählung hängt auch von seiner Fähigkeit zur Selbstkritik ab.

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Zum anderen  bewegt mich seit damals der Trieb zur Überschreitung, ein experimenteller Trieb, was vielleicht auch mit diesem extremen Katholizismus zu tun hat, die Sehnsucht,  das Andere zu finden, die Alternative. Insofern war mein Weg in die Avantgarde gleichzeitig neben dem Wunsch nach dem Erzählen von Anfang an präsent. Der Avantgardist spricht im Kontext einer Gruppe, er schreibt im Bewusstsein, einer Elite anzugehören, einer Gemeinschaft, die sich im Besitz eines bevorzugten Blicks auf die Geschichte wähnt. Er macht der Realität den Garaus, will sie ins Bessere umgestalten. Wenn er provoziert, dann um einer heiligen Sache wegen, er ist ein religiöser Mensch, ihm fehlt ganz und gar die Skepsis, das Einzelgängerische des Erzählers, der nie über die Wirklichkeit triumphiert, sondern einen Pfad durch sie sucht.

Beides betrifft also eine – wie es mir vorkommt -  notgedrungene Konzeption von Autorschaft. Ich verknüpfe ein paar Dinge, die in meinem Leben passieren, lebensgeschichtlich zufällig, aber im Erzählen auf  eine ganz bestimmte Weise, das nennt man dann Literatur, etwas, was im übrigen bei Robert Walser eine so grosse Rolle spielte. Man befindet sich  im Spannungsfeld zwischen Privatsprache und fürs Veröffentlichen gedachter Sprache, zieht möglicherweise wie Walser die extreme Konsequenz, sein Leben und Schreiben total zu verschlüsseln, oder aber liefert sich exhibitionistisch der Medienwelt aus.  Wenn von  Verknüpfen die Rede ist, braucht es ein Nachdenken über die Auswahl, die man trifft.  Was verknüpft man wie?

 Ein wiederum anderer Autor hat mich in den letzten 20 Jahren ebenso beschäftigt, Robert Musil: vor allem sein Punkt der Form. Musil beschreibt in seinen Tagebüchern, in welcher Weise er versucht, wie ein Naturwissenschafter genau zu schreiben, und wie ihm das nicht gelingen will, und er dann immer exaktere Daten verwendet – und es funktioniert trotzdem  nicht. Dann  stellt sich ein halb mystischer Zustand ein, er sitzt eines morgens vor dem Schreibtisch und findet den Punkt der Form, und die Realität verwandelt sich im Schreiben.

All diese Momente – Überschreiten, Versöhnen, Verknüpfen, den Punkt-der-Form-Finden - haben mich stets begleitet, mit wechselnder Gewichtung. In den 70er Jahren versuchte ich, Schreiben und Politik zu versöhnen. Ich war Mitherausgeber  einer Literaturzeitschrift, Nebelhorn, in der wir  den etablierten österreichischen Literaturbetrieb attackierten, weil wir nach der Lektüre von Michel Foucault die Seltbstkritik der Intellektuellen als notwendige Voraussetzung für ihr gesellschaftliches Engagement erkannten. Wir rückten in unserer Verzweiflung RAF-Ideologemen näher und näher. Und als dann fast alle ihr Hochschulstudium beendeten, endete auch die revolutionäre Sehnsucht.  Ich wandte mich damals dem Kino, dem Dokumentarfilm, dem Video und Radio zu, weil ich mir vorstellte, für ein zeitgenössisches Schreiben müsste man wissen, wie all diese Medien funktionieren, wie sie die Literatur verändern. Ich arbeitete in Videoprojekten, Pilotsendungen  für ein demokratisches Fernsehen. In der Videobewegung herrschte eine ähnliche Euphorie wie im frühen Internet  - mit dem neuen Medium würde sich ein neues soziales Band knüpfen und dem Moloch Herrschaft der Kampf angesagt. Wir gingen   in Fabriken, filmten den Tag eines Fabrikarbeiters, spielten die Bänder vor Betriebsversammlungen vor, zeichneten die Debatten wieder auf – Dsiga Wertow oder so. Ich machte dann freies Kino, betrieb ein Off-Kino mit, das Filme aus der Dritten Welt vorführte. Und schließlich hielt es mich in all diesen Organisationen nicht, ich war nur zufrieden, wenn ich allein war, und so schrieb ich nach jener anfangs erwähnten Prag- und Zürichreise meinen ersten Roman.

Aus meiner Videozeit blieb ein  formaler Horizont fürs Romanschreiben übrig: Sätze der totalen Gegenwart, wie  die Medien sie produziert – mein Roman „Labrys“, der die Geschichte eines Menschen vom Augenblick seines Todes zurück bis zum Geburtsschrei erzählt, ist wie ein Bildschirm, auf dem aus der Kulturgeschichte des Todes eine Geschichte der Bilder des Todes wird. Er besteht aus kurzen, ausschließlich Beschreibungs- und Behauptungssätzen. Er kennt keine Relativsätze, und auch die Zeiten werden alle in der Gegenwart erzählt. Auch ist die Grenze zwischem dem Erfundenen, Gedachten und Zitierten aufgehoben - der Roman funktioniert wie eine Schnittfläche, ein Interface, langsam entsteht aus den vielen Pixeln und Punkten ein Bild. Das Private und das Öffentliche fließen ineinander: der Tod meines Bruders und die Ikonographie des Todes seit der Antike.

Dann holte mich Mitte der 80er Jahre  Alfred Kolleritsch ins Forum Stadtpark Graz. Das Forum war zwar ein durch die Literatur bekannt gewordenes Haus – Peter Handke, Wolfgang Bauer, Gerhard Roth, Elfriede Jelinek, Barbara Frischmuth waren damit verbunden –  indes von Anfang an ein interdisziplinäres Haus gewesen, ein Künstlerhaus, das acht Disziplinen vereinte, auch Medien und Wissenschaft. Ich gestaltete von '85 bis '95 das Literaturprogramm mit.   Mein  Schreiben erfuhr einen stark konzeptionellen Zug, ich fand mich im Kontext einer Avantgarde wieder, mit einer ausgeprägten formalistischen und institutionellen Tradition. Avantgarde hieß Verteidigung einer ästhetischen Elite, die mit staatlichen Subventionen gestützt als Torwächter der Moderne fungierte. Ich moderierte Veranstaltungen, entdeckte neue Autoren und geriet in eine literaturpolitische Rolle. Ich erlebte Literatur im Wechselspiel der Macht. Meine Romane kreisten damals um den Begriff der Vielstimmigkeit. Und diese Vielstimmigkeit erzeugte ich als Veranstalter real, indem ich einlud und ablehnte.  1988 stieß ich auf einen Artikel des Schweizer Autors Felix Philipp Ingold, der meine Situation genau umriß: er beschrieb das Phänomen 'der Autor als Manager'. Die sich  abzeichnende neoliberale Entwicklung, meinte er, führe auch dazu, dass der Autor weniger ein  Demiurg, ein Welterschaffer ist, sondern ähnlich einem Manager mit betrieblichen Kategorien beschrieben werden müsste.  Der Autior als Archivar, als Sammler, Vermittler, Navigator. Ich machte daraufhin meine eigene zwiespältige Situation als veranstaltender Autor zum Modell eines literarischen Experiments. Der Literaturbetrieb mit seinen staatlichen Subventionen sollte thematisiert sein, die Entwicklung vom  'Autor als Selbstverwalter' zur  Funktion des Literaturmanagers.

Im Forum Stadtpark arbeitete ich vor allem mit Bildenden Künstlern zusammen. In der Bildenden Kunst stellt der Betrieb bereits das Publikum dar, weswegen die Idee der Factory – des produzierenden Salons, der sein eigenes Kultmarketing betreibt - schon eine historische Dimension hatte, während in der Literatur die wenigsten wußten, was damit gemeint ist.  Vorallem Martin Kippenberger und Jörg Schlick hatten Warhol, Beuys, auch die Surrealisten sehr pointiert in eigenen Arbeiten zitiert, und ich übertrug nun diese Ideen aus  der Konzeptkunst in den Bereich der Literatur und gründete die Literaturfactory ABSOLUT. Die Factory der Konzeptkunst zitierte die klassische Werkstatt der Renaissancekünstler, in der das Fertigen von Kunst bereits unter die Trademark eines Künstlernamens gestellt war. Warhols Factory versuchte das unter industriellen Bedingungen zu tun, ein Exzess des Schaffens, Verbreitens, Kritisierens, Entdeckens von neuen Künstlern und Lebens.

Auf der einen Seite existierte also diese Idee 'Autor als Manager', mit dem Hintergrund meiner eigenen Arbeitserfahrung, und auf der anderen eine ironische Adaption der Warholschen  'Factory'.  ABSOLUT  war eine Paraphrase auf die "Absolut" Wodka-Werbung von Andy Warhol, mit der er das Verhältnis von Kunst und Kommerz thematisiert hatte.  ABSOLUT hieß nun ein mehrjähriges Veranstaltungsprogramm aus Diskussionen, Selbstdarstellungen, Konfrontationen, Entdeckungen, Konzeptveranstaltungen, Überschreitungen zur Popmusik usw. ABSOLUT hieß auch eine zigarettenschachtelgroße Zeitschrift. Im Mittelpunkt stand ein Reise- und Schreibprojekt, "Die Neuschreibung der Odyssee" , die ich mit einem Essay begründete, der „Grond. Ein Roman“ hieß. Die  Homersche Odyssee in Umkehrung – der Text schreibt den Autor; die Übertragung der Factory-Idee, die Thematisierung der Autorenschaft, das alles sollte in einen Roman einfließen.  Ich lud nun als Sekretär des Unternehmens  21 Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern ein, in einem Art Staffellauf je ein Kapitel der Odysse zu bereisen und neu zu schreiben. Ich als Walter Grond schrieb die Telemachie, also die Suche des Sohns nach dem verlorenen Vater – als Suche nach den Autorenbiographien in der Ruine Europa (ich besuchte  die Schreckensorte des 20.Jahrhunderts). Andererseits ordnete ich als Sekretär und Archivar die einlangenden Reiseberichte und Kapitel und lud mich mit den Texten der anderen Autoren langsam auf. Ich als Sekretär war also eine Art Aggregat, das sich mehr und mehr auflud, indem es von den anderen geschrieben wurde, und nun in einer gegenläufigen Bewegung diese Entwicklung, die Entstehung des Romans, aufschrieb.

Die Ziele der Reisen stützten sich auf die Thesen  einer Hobby-Ethnologin aus Wien, Christine Pellech, die meint, dass unsere Lesart der Odyssee auf einem Missverständnis der griechischen Geschichtsschreibung fusst und eigentlich eine frühzeitliche phönizische Weltumsegelung im Auftrag der Ägypter verschlüsselt wiedergibt. Odysseus umsegelte demnach die ganze Welt, und auf dieser Route beauftragte ich nun die 21 AutorInnen zu reisen und ein Stück des Buchs zu schreiben.

Ich sagte mir, wenn ich im Forum Stadtpark für Repräsentationen Millionen verwalte, muß es mich  doch interessieren,  den bürgerlichen Kulturbegriff insofern zu hinterfragen, als dass ich für die Literaturproduktion die selben Budgets wie fürs bürgerliche Theater einfordere. Das hat zu grosser Aufregung geführt, weil ich verlangte, all diese Autoren müssten nicht nicht nur Spesenersatz für ihre Reisen bezahlt bekommen, sondern annähernd Honorare, wie sie am Theater üblich sind. Die öffentliche Hand kam diesem Wunsch nach, und danach hieß es aus Autorenkreisen, ich verschleudere Geld, was ich sehr interessant fand.

Das Buch GROND ABSOLUT HOMER. erschien 1995, zur Buchmesse in Frankfurt, und da passierte etwas   für mich Einschneidendes. Der Literaturbetrieb reagierte sehr ablehnend. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nichts mit Computern zu tun,  ich wusste nur, dass es das gibt, und unsere Sekretärinnen solche Geräte verwendeten. Dann kam ein junger Elektronikkünstler zu mir -  inzwischen ist er Leiter der Ars Electronica in Linz -, und dieser junge Gerfried Stocker erzählte mir, er habe dieses Buch durchgesichtet und verstanden, dass ich im 'analogen' Kunstbereich etwas ähnliches triebe wie die neue elektronische Kunstszene. Er nannte mich einen Autor der analogen, und sich selbst einen Künstler der digitalen Welt. Ich sei als  Übergangsfigur interessant – noch Relikt, aber schon ins Neue hinüberweisend. Ich habe jedenfalls den Autor in einer Weise in Frage gestellt, mit meiner Figur des transindividuellen Autors, der sich aus den Texten der anderen speist, wie dies im elektronischen Zusammanhang selbstverständlich sei, ja noch weit radikaler geübt werde. Man nenne das Sampling, das Verschwinden der Originalität, eine kollektive Schreibweise, die Interaktivität bedinge. Er gestaltete dann gemeinsam mit dem Österreichischen Rundfunk und einem Universitätsserver, TAXIS, ein akustisches Hypertext Environment aus Texten unseres Odyssee-Romans, die er  in Echtzeit während einer Live-Veranstaltung im Literaturhaus Frankfurt von Usern bearbeiten ließ. Ich hatte etablierte Autoren aus diesem Odyssee-Projekt eingeladen, neue Autorinnen und Autoren vorzusatellen. Im Internet wiederrum bastelten 7000 Leute während der 45 Minuten an ihrem  PC zuhause am Odyssee-Roman,  und Gerfried Stocker modulierte daraus ein Stimmendurcheinander, im wahrsten Sinne des Wortes Geräusch, das über das ORF Kunstradio gesendet wurde. Durch  Veränderungen am Text entstand eine einstündige Klangskulptur, die über den Äther auch ins Literaturhaus Frankfurt eingespielt wurde – zum Entsetzen der anwesenden AutorInnen, die  das Ende der Literatur besiegelt sahen.

Ein Jahr später, 1996, stellten wir in Wien das ABSOLUT-Projekt vorgestellt. Der Veranstaltungsort ist sehr renommiert, das Literarische Quartier der Alten Schmiede – ein Ort der literarischen Moderne. Ich   bat  Reinhard Döhl aus Stuttgart, über die Netzwerk-Experimente in den 50er und 60er Jahren zu erzählen, er tat es in Gegenwart von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, mit denen er damals  Postkarten-Lyrik schrieb, sehr zum Missfallen der etablierten Literaten, die bei Lesungen empört den Raum verlassen hätten, so etwas sei doch keine Literatur.  Das versammelte Publikum lachte. Und als dann nach Reinhard Döhl die Gruppe um Gerfried Stocker mit ihren Computern die Bühne betrat und „Taxis. Ein Enviroment“ vorstellte, verließen Jandl und Mayröcker und all die anderen fluchtartig den Raum, von der Kunstvorstellung der Techno-Künstler überfordert.

Ich wurde dann 1995 Nachfolger von Alfred Kolleritsch als Präsident des Forum Stadtpark und wollte dieses Konzept 'Factory' aufs ganze Haus übertragen, begreifend, dass die Avantgarde der Gründergeneration mit den kulturellen Gewohnheiten junger Leute nicht mehr mithielt. Ich holte also die Internetszene ins Forum Stadtpark, was grosses Entsetzen hervorrief, und plante die Umgestaltung des traditionell selbstverwalteten Künstlerhauses zu einer neuen Art interkultureller und interdisziplinärer Kunstakademie. Ich wollte den jungen Generationen Platz geben und zugleich eine Brücke zwischen den Generationen bauen. Die Akademie sollte als ein Cluster-System in Kooperation mit bestehenden universitären Einrichtungen in Graz funktionieren, im Mittelpunkt das Forum Stadtpark, in dem die künstlerische Praxis Raum greifen sollte. Eine Factory, wo internationale Künstler mit jungen Künstlern arbeiten, ein andauerndes Fest der Kunst und der Kommunikation.

Daran scheiterte ich und schied 1997 aus dem Forum Stadtpark aus. Ich stürzte aus den Höhen institutioneller Kunst in die Tiefen einer skandalisierten Person ohne jede Ehre, wurde von Alfred Kolleritsch kriminalisiert. Ich zog mit meiner Familie ins Dorf, in ein kleines Dorf in der Wachau und lebe seitdem dort. Und hatte neben all den persönlichen Problemen ein  künstlerisches. Aus dem Kontext der  Avantgarde verstoßen, musste ich einen ästhetischen Weg zu einem Autor der einzelnen Stimme finden, und im Grunde erschuf ich mich nochmals als Autor, indem ich mit den Mitteln des Bernhard`schen Erregungsgestus einen Roman über die Macht und die Kunst schrieb,  mich als Erzähler konstituierte, der zugleich essayistisch den Verunsicherungen nachgeht, die der gegenwärtige Kulturwandel für die Literatur bedeutet.

So endet auch der Essayband "Der Erzähler und der Cyberspace“ mit dem Kapitel "Die Geburt des Autors nach dem Tod des Autors".

Eine Linie, die ich schon in meiner Forum Stadtparkzeit gegen den Widerstand der Hausautoren verfolgte, war mein Versuch einer „Politik der Mentalitäten“, wie Lepenies das nennt. Es begann damit, daß wir 1988 ein Literatursymposium mit dem Titel "Das Jugoslawische Labyrinth" organisierten. Damals versammelten sich zum ersten und letzten Mal AutorInnen aus fast allen Sprachgruppen Jugoslawiens, damals aber noch unter dem Vorzeichen  der Postmoderne, Borges’ Labyrinth anspielend, also eine formal ästethische Konzeption. Und dieses Symposium wiederholten wir 1995, mit denselben Autoren, die nun aus den Kriegsgebieten nach Graz kamen. Es kam zum Beispiel zu Diskussionen zwischen Aleksandar Tišma und Mile Stojic aus Sarajevo, der weinend das Podium verließ. Damals kam auch  Dzevad Karahasan nach Graz, mit einem Nato-Flugzeug nach Österreich gebracht, weil  viele Leute in Sarajewo davon überzeugt waren, daß der serbische Versuch, das kulturelle Gedächtnis dieser Stadt auszulöschen, funktionieren würde. Man wollte Karahasan als Botschafter  der dialogischen Kultur Sarajewos nach Westeuropa bringen. Dzevad war der erste Muslim, den ich näher  kennenlernte, was für mein linksliberales Selbstverständnis eine ziemliche Erschütterung bedeutete. Ich musste mir sagen,  in einer Kultur zu leben, die den Anderen keineswegs wie oft behauptet die Pluralität zugesteht, auf die sie selbst so stolz ist.

Dzevad Karahasan ging dann nach Göttingen an die Universität und wollte mit mir gemeinsam diese interkulturelle Akademie in Graz gründen. Er kam nach Graz, genau im März, als ich von Graz weg mußte ... und lebt seitdem in Graz, und ich lebe im Dorf. Er brachte mich nach Sarajewo und lebte mir vor, was der  'Dialog der Kulturen' bedeuten kann. Und ich begriff, daß die Debatte um den Kulturwandel entlang der technologischen Entwicklung – Internet, Sound usw., neue Mixtechniken, Samplen, Redundanz und Konvergenz der Medien–, mit einer Entwicklung parallel geht, die die Begegnung der Kulturen betrifft. Interdisziplinarität und Intermedialität haben ihr Gegenüber in der Interkulturalität – im einen betrifft es den weltweiten Transport von Zeichen, im anderen den von Menschen und ihrer Gewohnheiten.

Ich hielt vor kurzem in Kairo  einige Vorträge an Universitäten. Ich war mit StudentInnen konfrontiert, die genau diese inhaltlichen Fragen ans Internet stellen: "Ist das ein neuer Kolonialismus oder verbirgt sich in den neuen Medien eine neue Chance zur Befreiung des Südens?"   Ihre Fragen wurden in Europa nach der Erfindung des Buchdrucks gestellt, am Beginn der Aufklärung,  schützt uns die  neue Privatheit vor der patriachalen Gesellschaft, kann ich mich als Individuum erfinden und so fort? Das Internet ist eine Kulturtechnik, die es ähnlich dem Buch dem Einzelnen ermöglicht, allein und unkontrolliert zu lesen, zu schauen, zu denken. Die neuen Technologien befördern die Durchmischung der Kulturen, sie geben ihnen einen wesentlichen Ansporn, und fördern andererseits den Individualismus, was ja von Kulturkonservativen allerorts beklagt wird, da sich die User - wie zuvor die Leser - abkapseln, zum Solipsismus neigen würden.

Seit 1995 betreute ich in Österreich ein Projekt, das Villes refuges heißt,  "Städte   der Zuflucht", von Salman Rushdie  in Strassburg initiert. Politisch verfolgte Autoren aus aller welt sollten in europäischen Städten aufgenommen werden und duerch dieses Projekt  eine Art Landebahn in Europa finden. Vier   österreichische Städte beteiligten sich daran und nahmen in diesen Jahren Autoren aus Usbekistan, Kuba, aus Ägypten und aus Bosnien auf. Ich betreute jene österreichische Partnerschaft am europäischen Schriftstellerparlament, und jene Arbeit veränderte tiefgreifend meine eigene Mentalität – ich habe die Arroganz verloren zu wissen, wo die Trennlinie zwischen der guten und der bösen Welt ist. Ich fordere mir selbst einen Pragmatismus ab, bin sehr misstrauisch gegenüber der Allwissenheit des Salons geworden.

Nun sprach mich zu Silvester 2000 Martin Krusche, ein Autor aus dem südlichen Österreich an, auf seiner Plattform ein literarisches Projekt zu versuchen. Ich schrieb gerade an dem Roman „Old Danube House“, der in Wien, Moskau und Sarajevo  und zwischen Mileus von Technik-Geeks und muslimischen Emigranten spielt und der Frage auf der Spur ist, was denn eigentlich das Fremde ist. Martin Krusche thematisiert auf seiner Plattform die Fragen nach dem Ort im Internet, was ist dabei Peripherie, was Zentrum, gibt es überhaupt noch Peripherien, offenbar Zentren, verliert sich der User im Dokuversum? Ich sagte: "Ich möchte keine Online-Version von Literatur, das interessiert mich nicht. Es gibt andere, die haben sehr ambitionierte Meinungen zu Netzliteratur, es gibt Formen, die finde ich selbst sehr spannend, wenn ich sie beobachte. Mich selbst interessiert das überhaupt nicht, ich bin jemand, der dazwischen steht. Ich bin jemand, der so verankert ist in der Buchkultur, dass das Lesen für mich im Buch einfach nach wie vor das Spannendste bleibt, und ich glaube, daß die Software Buch eine Kulturtechnik ist, die es nachwievor am besten geschafft hat, Komplexität in linearen Geschichten darzustellen. Das ist eine unübertroffene Leistung der Literatur, ob sie künftig im E-Book oder weiter auf  unter die Menschen gebracht wird ist ein zweitrangige Frage.“ Was mich indes interessierte, war die Nützung des Internets als literarischer Salon. Zum einen, weil ich selbst an der Peripherie lebend nach Kommunikation suchte, und zum anderen weil mein Misstrauen gegenüber dem Salon doch ein Projekt über einen salon der Peripherie geradezu herausforderte. Der klassische Salon kennt keine Selbstkritik, er ist eine Versammlung von Priestern. Wir sagten also, wenn wir über das Fremde reden wollen, müssen wir zuerst über uns selbst reden, die Referenzen auf den Tisch legen, die uns überprüfbar, angreifbar machen.

Ich schlug also vor, den im Internet abwesenden Roman „Old Danube House“ zum Gründungstext unseres Salons zu machen, der den Kontext, den Subtext, die Konsequenzen aus einer mehrjährigen Arbeit um das Fremde transparent macht.

Wir luden Klaus Zeyringer dazu ein, als dritter im Bunde den Candide des Unternehmens zu spielen, er hatte zu dieser Zeit nicht nur keine Erfahrung mit dem Internet, sondern wehrte den gebrauch von Technik reflexhaft ab. Der Roman war also in der ersten Version von „house“ der Schwerpunkt unserer Interaktion, selbst aber nur in Spuren vorhanden, indem sich langsam Hintergrund und Thematik verdichteten und wir zugleich in einer Kommunikationsebene offen legten, wie sich die Bedingungen des Salons im Wachsen veränderten.

Neben den Debatten und Essays entwarfen wir Bildgeschichten, der Hypertext wurde immer komplizierter, raumgreifender, verirrter, das ging etwa ein halbes Jahr so.  Wir wollten, dass unsere Mitdiskutanten sich zu Erzählern entwickeln sollten; im Idealfall sollte, wenn im Roman die Hacker-Szene beschrieben wird – ein Hacker  in die Salon-Debatten eingreifen und sich selbst einen Gestaltungsraum entwickeln. Der Roman "Old Danube House" sollte also immer mehr nach unten tauchen, und die Romanfiguren selbst einen Salon gestalten.

In Ansätzen gelang uns das. Beispielsweise stiegen eine bosnische und eine serbische Radiojournalistin ein, gründeten eine Plattform. Die zweite Version, die in diesem Prozess entstand, funktionierte mehr und mehr nach einem Eisbergmodell: es bleibt immer alles im Archiv lagern, aber nur eine aktuelle Schicht –die Spitze des Eisbergs – ist auf der Homepage sichtbar. Wir wollten Komplexität und Benützerfreundlichkeit parallel führen. Und wir taten dies ästhetisch stets einen schritt hinter der momentanen Entwicklung, sowohl was die Grafik als was die Struktur betrifft, um auf dieses Dazwischensein hinzuweisen – Literatur und Netz.

Im zweiten Stadium ordneten wir einige Räume an, die das Internet bedeuten kann – Interaktion, Datenbank, multimediale Ensembles, Kommunikation, Information usw. Wir verwendeten für diese Räume aber nicht gängige Internet-Begriffe, sondern solche aus der 'alten Literatur', um Überschneidungen zu pointieren. Wir nannten  beispielsweise die multimedialen Web-Ensembles "Erzählungen“, den Textspeicher "Verlag", das sprachliche Interface "languages", das der fremden Redaktionen  "Extension" und "Agenturen und Plattformen".

Inzwischen tritt der Salon in ein neues Stadium. Seit einigen Monaten programmiere ich selbst die HTML-Seiten, auch mit der Absicht, an mir selbst den medienfiten Autor auszutesten. Zum anderen soll der Salon mehr und mehr eine Schnittfläche zu anderen rojekten werden. Vorallem zu Dževad Karahasans "Poetik der Grenze". Die  Poetik der Grenze wird sozusagen unser Theoriegenerator, der sich mit den Mitteln der Salonpraxis nährt – ein Feld, wo Theorie und Praxis, wenn nicht eins werden, dann doch  in andauernder wechselseitiger Bespiegelung funktionieren. Eine Poetik der Grenze bedingt den Dialog der Kulturen, insofern der Salon zunehmens mehrsprachig wird. Die babylonische Sprachenverwirrung ist in diesem Haus erwünscht.

 

 

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