laufende Akte [house]
über die fremde und die peripherie
Friedrich Achleitner

Gibt es einen mitteleuropäischen Heimatstil?
(oder: Entwurf einer peripheren Architekturlandschaft)
[1]

Ich weiß nicht mehr, wie es zu diesem Titel gekommen ist. Als Frage formuliert, könnte man diese schlichtweg mit nein beantworten. Und wenn es einen mitteleuropäischen Heimatstil gäbe, wäre er vermutlich genau so nebulös, diffus und unbeschreibbar wie der Begriff Mitteleuropa selbst. Anders sieht es jedoch aus, wenn man den Plural gebraucht - mitteleuropäische Heimatstile gibt es sicher. Ihre Vielfalt führt auch zum Thema, ihre architekturgeschichtliche Vernetzung ist das Thema.

           Der nicht unbescheidene Untertitel weist darauf hin, daß es sich um die Erfindung eines komplizierten Sachverhalts handelt, genaugenommen um eine Montage aus vorhandenen Elementen. "Skizze" hätte bescheidener geklungen, aber überheblicherweise den Gegenstand als vorhanden ausgegeben. Den Gegenstand gibt es nicht, soviele Ansichten auch von ihm existieren mögen. Es handelt sich vorläufig um ein Bündel von Fragen, Beziehungen, Deutungen und Behauptungen, also um ein mitteleuropäisches Phänomen. Zur Annäherung an die Probleme ist es zunächst notwendig, ein paar Begriffe zu bestimmen, zumindest den Versuch zu unternehmen, sie kurz zu beschreiben.

 

Heimat

Der Begriff Heimat hat sich im späten 19. Jahrhundert als zentraler Terminus einer Kulturbewegung entwickelt, die einerseits in Konflikt stand mit der Großstadtkultur der Metropolen (Scholle gegen Asphalt), mit den Auswirkungen der industriellen Revolution, der zunehmenden Überbauung der Landschaft, mit Liberalismus und Unternehmertum, die sich andererseits aber auch bedroht fühlte vom Internationalismus des Proletariats, der Organisation einer neuen Kraft von unten, die ebenfalls als Produkt und Gefahr aus der Großstadt gesehen wurde.

            Heimat war von vornherein ein brisanter kulturpolitischer Begriff, entstanden aus dem Bewußtsein eines Verlustes einer wie immer richtig oder falsch interpretierten heilen Welt. Heimat entstand also in der Polarität von national und international, rational und irrational, Handwerk und Industrie, Kleinstadt/Dorf und Großstadt, Natur und Dekadenz, gesund und krank, Tradition und Fortschritt, sozialer Geborgenheit und anonymer Massengesellschaft. Heimat war eine überschaubare, tradierte Welt. Dem Großstädter wurde sie rundweg abgesprochen. Heimat war von Anfang an ein romantischer Fluchtbegriff, entstanden aus dem Bewußtsein eines Verlustes. Das, was es zu retten galt, war eigentlich mit dem Erkennen der Gefahr schon verloren. Heimat, ein resignativer bürgerlicher Kulturbegriff also, so kraftstrotzend und kämperisch er sich auch noch gebärden mochte.

            Es ist kein Zufall, daß sich dieser emotionalisierte Kulturbegriff zuerst in der Literatur ausdrückte, um schließlich im 20. Jahrhundert im Illusionsmedium Film zu verenden.

 

Mitteleuropa

Zu Mitteleuropa fällt mir nichts ein. Zwischen Friedrich Naumann und Oswald Wiener liegt ein weites Feld. Mitteleuropa, so vermute ich, ist ein Begriff der Peripherie, des Peripheren. Mitteleuropa, ein neues Arkadien der beiläufigen Vielfalt, der bedeutenden Kleinigkeiten, auffüllbar mit Träumen und Projektionen, der Vergangenheit über beide Ohren gestülpt. Mitteleuropa, eine Landschaft erloschener Vulkane, verdrängter Konflikte, Spielfläche gewesener und denkbarer Koexistenzen, Szene einer unüberschaubaren Überschaubarkeit, einer unheimlichen Vertrautheit, einsilbige Vielsprachigkeit und Ignoranz mit Erbrecht.

            Mitteleuropa, der neue Heimatbegriff einer noch nicht postindustriellen Gesellschaft.

            Und Wien ist natürlich die Hauptstadt dieses Mitteleuropa. Selbst peripher und Peripherie, hat es das Periphere zum Inhalt seiner Existenz gemacht, die Peripherie ins Zentrum geholt. Mitteleuropa, also die Überlagerung von Randzonen, zum Modell einer Großstadt erhoben, das muß doch Hoffnungen erwecken.

            Das Gefährliche an Mitteleuropa ist seine Nichtexistenz. Es ist ein Feld der Konspiration des Nordens mit dem Süden, des Westens mit dem Osten. Mitteleuropa, das ist die Konspiration der Ränder. Niemand weiß, wo dieses Feld beginnt und wo es aufhört. Seine Ränder reichen bis in die Zentren. Die Zentren sind die Ränder von Mitteleuropa. So betrachtet darf Wien kein Zentrum werden, sonst ist Mitteleuropa verloren.

            Mitteleuropa darf kein restauratives Modell werden, schon gar nicht auf dem Rücken der sogenannten Nachfolgestaaten der alten Donaumonarchie. Mitteleuropa, das ist nur ein Konstrukt, vielleicht mit Zukunft, sicher mit Vergangenheit. Mitteleuropa, das ist vielleicht die Form, mit dieser Vergangenheit ins reine und miteinander ins Gespräch zu kommen.

 

Heimatstil

Der Heimatstil war eine Erfindung der großstädtischen Industriegesellschaft. Er stellte jene dekorative Verbrämung der neuen Bautypen des späten 19. Jahrhunderts dar, die im Zuge der städtischen Landnahme (etwa zu Erholungszwecken) überall in die Landschaft gesetzt wurden. Heimatstil war also die Einkleidung der Hotels, Kurhäuser, Badeanstalten, Bahnhöfe oder Villen mit sparsamen bäuerlichen Motiven (oder solchen, die man dafür hielt), die jedoch am Grundcharakter dieser neuen, teilweise brutal und rigoros auftretenden Bautypen nichts änderte. Der Heimatstil drückte gewissermaßen das schlechte Gewissen des Großstädters aus, der sich, nach Loos, mit dem Bauern im Ganghofer-Dialekt zu unterhalten versuchte, sich leutselig gab, ohne jedoch seine Gewohnheiten aufzugeben, ja den die Kultur und die Lebensform des Einheimischen keinen Deut interessierte. Heimatstil, das war die Lederhose für den Notar, der sich sogar einbildete, sich in ihr wohl zu fühlen. Heimatstil, das war also nicht nur ein großstädtisches, sondern auch ein internationales Phänomen: Semmering, Bad Ischl, Gastein oder St. Moritz sind fast Synonyme für diesen "Laubsägestil", dessen Verbreitung von den Pyrenäen bis in die Karpaten reichte oder von den Metropolen bis in die Kolonien. Sein Hauptmerkmal ist, daß sich die neuen historistischen Bautypen in ihrer Grundstruktur nicht änderten, die Variationen spielten sich lediglich im Dekor ab, dieser reflektierte im besten Falle regionale Motive, in den meisten Fällen aber auch dies nicht.

 

Heimatarchitektur, Heimatschutzarchitektur, Heimatstil

Die Heimatarchitektur ging wie die Heimatkunst aus der Heimatschutzbewegung hervor, sie war also der erklärte Feind des Heimatstils.[2] Die Heimatschutzbewegung (abgesehen von den politischen und kulturpolitischen Hintergründen) wehrte sich gegen die Landnahme der Großstadt, die Verstädterung der Landschaft, die Industrialisierung des Lebensraumes. Sie war also eine regressive und defensive Kulturbewegung. Sie suchte ihre baulichen Vorbilder in der vorindustriellen, handwerklichen Kultur und bemühte sich um das Verständnis regionaler Entwicklungen. Sie war Teil der Biedermeierrezeption der Jahrhundertwende, sie wandte sich gegen alle internationalen Tendenzen, vom Historismus bis zur Moderne. Die Heimatarchitektur ging einher mit der regionalen Sprachforschung, der Entdeckung der Dialekte, der Konservierung der Volksmusik, der Haus- und Siedlungsforschung und schließlich dem Studium der volkstümlichen Kunst und Architektur. Sie suchte die "heile" Welt in den Ausdrucksformen des bäuerlichen und bürgerlichen Lebens, der Hohepriester dieser Welt war der Handwerker.

            Wir haben es hier mit einem sehr komplexen, in der Kürze nicht darstellbaren kulturgeschichtlichen Vorgang zu tun, dessen Quellen einerseits zu William Morris und John Ruskin zurückreichen, aber ebenso zu den Brüdern Grimm oder in die Philosophie der deutschen Romantik. Wir finden diese Ideen bei Adolf Loos genau so wie bei Josef Hoffmann, beim Otto-Wagner-Biographen Josef August Lux ebenso wie beim Otto-Wagner-Kritiker Leopold Bauer. Andererseits führt die Ideologie eines Paul Schultze-Naumburg, der mit seinen ab 1901 erscheinenden Kulturarbeiten zur zentralen Figur des deutschen Heimatschutzes wird, direkt zur "Blut-und-Boden-Ideologie" des Nationalsozialismus. Joachim Petsch hat in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Aspekt hingewiesen: die tragende Schicht der Heimatschutzbewegung war die bürgerliche und kleinbürgerliche Mittelschicht, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zweifach bedroht fühlte; einmal von oben, vom Großbürgertum, vom Kapital, vom internationalen Unternehmertum und der Geldaristokratie, und schließlich von unten, vom sich organisierenden Proletariat, dessen Stärke ebenfalls in der internationalen Sammlung seiner Kräfte lag. Auch in Wien führte, über die erste kleinbürgerliche Großpartei Karl Luegers, ein Weg zu Adolf Hitler.

 

Nationalromantik

Der Begriff der Nationalromantik scheint mir in diesem Zusammenhang ein sehr wichtiger zu sein, wenn er auch zunächst von Mitteleuropa wegführt. Er entstand bei den Finnen unter besonderen Bedingungen: Finnland war im 19. Jahrhundert ein russisches Großfürstentum, das mehr oder weniger von Petersburg aus regiert wurde. Die finnische Oberschicht (ca. 10 Prozent) war schwedisch, die jedoch rund 90 Prozent des Kapitals besaß. Die Sprache der Gebildeten war also schwedisch, die der Herrschenden russisch. Man kann sich vorstellen, daß unter diesen Bedingungen einer doppelten Fremdherrschaft die Entdeckung der eigenen Sprache und Kultur eine besondere kulturpolitische, ja politische Brisanz besaß. So ist in Finnland der Aufbruch der Moderne in der Architektur identisch mit einem nationalen Selbstfindungsprozeß, und was wir eben mit Jugendstil, Secession oder Moderne bezeichnen, heißt dort Nationalromantik.

            Nationalromantische Phänomene gibt es auch in Mitteleuropa: der frühe Abnabelungsprozeß der Ungarn von Habsburg hat dort zu ähnlichen Erscheinungen geführt. Ödön Lechner ist die zentrale Figur einer ungarischen Nationalromantik. Jedoch waren die Beziehungen zu Wien und zum westlichen Ausland zu vielschichtig und vielfältig, der Prozeß der eigenständigen Entwicklung um die Jahrhundertwende herum schon zu weit fortgeschritten, schließlich Budapest schon eine Metropole mit eigener Dynamik, so daß sich diese Form eines künstlichen Nationalstils nur mehr als ein Aspekt des ganzen architektonischen Spektrums entwickeln konnte.

            Es dürfte kein Zufall sein, daß sich nationalromantische Bewegungen im damaligen Europa am besten an seinen Rändern entwickeln konnten, in Skandinavien, in Katalonien und in der Türkei. Sicher ist bei Antoni Gaudi der nationalromantische Aspekt nur einer unter mehreren, aber er war nicht der einzige Architekt in Barcelona, der der katalanischen ruralen Bautradition zu architektonischen Weihen verhalf. In Istanbul kann man von keiner Bewegung sprechen, hier waren es die Bauten eines Ausländers, die auf eine nationale Tradition reagierten, die Arbeiten des Italieners Raimondo d'Aronco.

            In Mitteleuropa wird deutlich, daß Nationalromantik kein Stil, sondern eher die meist subjektive Interpretation echter oder vermeintlicher nationaler Eigenschaften ist, so gibt es Nationalromantisches genauso bei den Wiener Secessionisten (etwa Olbrich oder Hoffmann) wie bei den späteren Prager Kubisten, gar nicht zu reden von einem Dusan Jurcovic oder Josef Plecnik.

 

Regionalromantik

Ging es bei der Nationalromantik um eine nationale Identität, die sich aus einer Überlegung zu befreien und aus einem Verband zu lösen versuchte - es gab sogar das Phänomen der überlegenen Abgrenzung, wie sie in Wien ein "Altdeutscher Stil" wohl auszudrücken versuchte -, so suchte die Regionalromantik innerhalb eines nationalen Staatengebildes ihre eher "stammesgeschichtliche" Identität. Ein Paradebeispiel dafür scheint mir Bayern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sein, wo im Glanz und Schatten der Wittelsbacher, kräftig unterstützt von der süddeutschen Heimatschutzbewegung, ein bayrischer Regionalstil entwickelt wurde, der bäuerlich-alpine und bürgerlich-barocke Elemente gleichermaßen vermengte.[3]

            Die Kunststadt München schuf das selbstbewußte Klima, das dann mit Erfolg nach Tegernsee und ins ganze bayrische Oberland verpflanzt wurde. Auch hier führt, sozusagen aus den Niederungen von Boden und Malz, ein Weg nach Obersalzberg, das heute immer noch im alpinen Bauen als Leitbild besonderer Bodenverbundenheit gilt.

            Zugegeben, das war ein sehr kurzer Schluß, da nicht die bayrische Heimatschutzbewegung (schon gar nicht ein Theodor Fischer) Hitler erfunden, sondern vermutlich Hitler als stammesverwandter Innviertler in dieser krachledern hochstilisierten Welt als ein an der Wiener Dekadenz gescheiterter Künstler Gefallen fand.

            Die Aktivität des bayrischen Heimatschutzes wird auch für Tirol von Bedeutung, wo er so etwas ähnliches wie architektonische Entwicklungshilfe leistete. Wenn man davon absieht, daß die meisten Baumeister dieser Zeit in München ausgebildet wurden, hat man auch sehr unmittelbar auf die Tiroler Geschicke Einfluß genommen. So wurde etwa nach dem Brand von Zirl (1908) der "Bayrische Verein für Volkskunst und Volkskunde" beim Wiederaufbau des Dorfes aktiv, indem Münchner Professoren sich an der Entwicklung neuer bäuerlicher Haustypen (durch das Studium der alten) und an deren Bemalung beteiligten. Architekturgeschichtlich bemerkenswert ist dabei der Realismus in der Vorgangsweise, der Eifer und Ernst, wie hier von oben eine "Architektur von unten" aufzuspüren und zu artikulieren versucht wurde.

 

Zwischenbemerkung

Die Begriffe Heimat, Mitteleuropa, National- und Regionalromantik stehen also in einem engen dialektischen Verhältnis zueinander. Was den Begriff Heimatschutz betrifft, so hätte dieser seine eigene lange und äußerst komplizierte Geschichte. Während es sich in der Schweiz z.B. heute noch um einen durchwegs positiv besetzten Begriff handelt (die Heimatschutzvereine kämpfen nicht selten für moderne Architekturprojekte), ist er bei uns nur mehr in einer degenerierten Seitenlinie existent, die mit den ursprünglichen Inhalten nichts mehr zu tun hat. Was die architektonische Dauerpleite in Kärnten betrifft, so könnte man höchstens den Slowenen zu einem Heimatschutz gegen den Einfluß aus dem Norden raten, denn gegenüber Klagenfurt ist Ljubljana immer noch eine Architekturstadt ersten Ranges. Ich weiß nicht, ob es den Begriff Heimat in den slawischen Sprachen oder im Ungarischen mit dieser kulturpolitischen Aufladung gibt, ja ob es überhaupt in diesen Ländern je eine Heimatschutzbewegung diesen Umfangs und ideologischer Brisanz gegeben hat. Ich vermute nein, und wenn ja, dann höchstens eine deutsche.

 

Zwischenbemerkung

Ich ertappe mich bei zwei ungewollten Festlegungen: Erstens scheint es selbstverständlich zu sein, daß Wien irgendwo in der Mitte des Beobachtungsfeldes liegt, zweitens legt sich der zeitliche Schwerpunkt irgendwo auf die Auflösung der Donaumonarchie fest. Beides ist mir unangenehm, ich kann es aber vorläufig nicht ändern.

 

Zur mitteleuropäischen Architekturlandschaft um 1900

Wien ist im späten 19. Jahrhundert, wenn man es auf eine einfache Formel bringen will, von zwei architektonischen Tendenzen beherrscht: eine davon ist eine internationale, kosmopolitische, wenn man will auch imperiale, in ihr finden wir die "Klassiker" (von Semper bis Hansen und Hasenauer) genauso wie den Rationalisten Otto Wagner oder die revoltierenden Secessionisten, das zweite Lager ist das der Romantiker, der "Gotiker", Nationalromantiker und Regionalisten. Bei diesen fällt auf, daß es sich ausschließlich um Variationen deutscher Inhalte handelt, von München, Stuttgart bis Berlin, Angelsächsisches mit eingenommen.

            Es ist selbstverständlich, daß von seiten Habsburgs zunächst eher den einigenden oder Einheit symbolisierenden Stilen Sympathie entgegengebracht wurde und nicht den differenzierenden, sich voneinander distanzierenden oder gar regionales oder nationales Selbstverständnis darstellenden. Das hat vermutlich auch die Secessionisten so schnell hoffähig gemacht, wenn auch ein Franz Ferdinand später aus anderen Motiven heraus eigene Wege ging.

            Während man also von der einen Seite, der deutschen oder deutschtümelnden, im Wiener Baugeschehen genug Spuren und Zeugen einer vitalen Präsenz findet, gibt es den gleichen Input aus dem Norden, Osten oder Südosten nicht. Wiens Präsenz durch seine ärarischen Bauten, Dokumentation von herrschender und verwaltender Anwesenheit, war nur eine architektonische Einbahnstraße. Im Prozeß einer Wechselwirkung fiel der Otto-Wagner-Schule eine besondere Aufgabe zu. In ihr versammelten sich die talentiertesten Köpfe der Kronländer, die sich bald am Rationalismus ihres Meisters, wohl auch an der imperialen Gestik seiner Bauten, zu reiben begannen. Wagners doktrinäre Lehrmeinung war in der Unberührtheit von den kulturellen Vorgängen in ihren Heimatländern sicher eine Herausforderung, das Thema "Nationalarchitektur" existierte für ihn nicht.

            Gerade dieses Thema führte aber in den nächsten Jahren zu einer praktischen und theoretischen Auseinandersetzung, die von den Tschechen auf dem höchsten intellektuellen Niveau geführt wurde. Sie spiegelt sich einerseits wider in der Artikulation und Entwicklung des Tschechischen Kubismus, andererseits im architektonischen Alleingang von Josef Plecnik, der später zu Recht von seiner slowenischen Heimat vereinnahmt wurde. Um diesen Vorgang näher zu erklären und vielleicht auch verständlicher darzustellen, folgt hier ein kleiner Exkurs über Josef Plecnik.

 

Josef Plecnik

Plecniks künstlerische Entwicklung vollzog sich im Spannungsfeld dreier Kulturen, in der Berührungszone der ehemaligen römischen und byzantinischen Welt, an der slawisch-romanisch-germanischen Sprachgrenze. Er war also von vornherein auf Mehrsprachigkeit angewiesen, ja gezwungen, seine Berufskarriere in einer fremden Sprache und Kultur zu machen. Der streng gläubige Katholik kam in Wien nicht nur mit der liberalistischen, utilitaristischen Gesellschaft in Berührung (in der Person seines Lehrers Otto Wagner), sondern auch mit den panslawistischen Ideen und dem vitaler werdenden Nationalismus der Kronländer. Obwohl Otto Wagner jede Form, auch die von deutscher Nationalromantik fremd und zuwider war, muß seine Schule durch die Vielfalt nationaler Temperamente (Deutsche, Tschechen, Mährer, Slowaken, Ungarn, Slowenen und Italiener) zumindest Diskussionen um die Inhalte nationaler Architekturen ausgelöst haben.

            Außerdem muß der junge Plecnik die "Kaiserstadt", die Pracht und Vitalität der Ringstraßenarchitektur als eine existenzbedrohende Herausforderung empfunden haben. Nicht anders ist seine Arbeitswut, sein Schwanken zwischen Hochmut und Verzweiflung, aber auch seine anhaltende Skepsis gegenüber der Großstadtkultur zu erklären.

            Während der Großteil der Wagner-Schüler gläubig der Doktrin ihres Lehrers folgte, ging Plecnik erstaunlich früh auf eine kritische Distanz. Eine Rolle mag hier auch seine Freundschaft zu den Tschechen, vor allem zu Jan Kotera gespielt haben. Plecnik teilte weder den positivistischen, rationalistischen Fortschrittsglauben Otto Wagners, noch die bedingungslose Hingabe an den Zeitgeist der meisten Secessionisten. So paradox dies klingen mag, er nahm die Moderne zu ernst, um sie ein Opfer ihrer eigenen Oberflächlichkeit werden zu lassen. Er teilte nicht den Zynismus und die kulturelle Überheblichkeit des Großstädters, seine "visuelle Mehrsprachigkeit" gab ihm feinere Instrumente der Unterscheidung in die Hand. Seine Architekturrezeption stand offenbar auch unter dem Zwang der Brauchbarkeit und Verwertbarkeit für seine Heimat.

            Ja, er sah die Rolle des Architekten als eine priesterliche und forderte nicht weniger, als daß der Künstler seine ganze Arbeitskraft dem "Volke" zur Verfügung stelle. Diese ethische Position ist in ihrer Ausschließlichkeit jener von Loos vergleichbar, dessen missionarischer Eifer zumindest noch einige Ventile der Ironie eingebaut hatte. Diese ethische Position Plecniks schuf jedoch die Basis für eine unbestechliche Auseinandersetzung sowohl mit den Phänomenen des Historismus als auch der Moderne. Während aber Adolf Loos, um diesen Vergleich noch einmal zu machen, eher die Grenzen der architektonischen Sprache (bis zum Gebrauch des Schweigens) abtastete, setzte sich Plecnik den Möglichkeiten der sprachlichen Vielfalt und der semantischen Ambivalenz architektonischer Vokabeln aus. Man könnte sein Werk auch als den Versuch deuten, die ihm essentiell erscheinenden Inhalte der abendländisch-humanistischen Kultur in eine nationale, slowenische zu übersetzen, abgestützt auf die Dialektik von "Volks- und Hochkultur".

            Plecnik hält eine schwer zugängliche und bestimmbare Distanz zu den Lösungen der Moderne. Während er den avantgardistischen Schulen in seiner Beharrung auf der humanistischen Tradition veraltet erschien, war er den konservativen in seinem Nonkonformismus zu abweichend radikal und eigenbrötlerisch, ja, so paradox dies klingen mag, zu modern und zu unkonventionell. Trotz der vordergründig eklektizistischen Wirkung seiner Werke war er immer ein Antieklektiker, der in seiner Auseinandersetzung mit der Tradition keinen Stein auf dem anderen ließ und keinen Gedanken ungeprüft und unverändert übernahm.

            Plecniks Werk scheint mir auch eine Herausforderung für unseren Realismus- und Regionalismusbegriff zu sein. Wie Damjan Prelovsek nachweist, hat Plecnik die Wagnersche Doktrin, daß jedes Ding seinen Zweck ausdrücken muß, in einem umfassenden und spirituellen Sinne ernst genommen. Die Verarbeitung seiner sozialen, kulturellen und politischen Situation müßte sogar in einem marxistischen Sinne "realistisch" genannt werden, wenn sie sich nicht auf andere Fundamente stützen würde. Jedenfalls hat Plecniks Versuch der Adaption von Formen in seinen kulturellen Bezugsrahmen eine viel engere Bindung an die Lebenspraxis seiner sozialen Umwelt, als sie jemals von orthodoxen Funktionalisten erreicht wurde.

            Ebenso gibt Plecnik auf das Thema Regionalismus eine provokante und aktuelle Antwort, indem er seine Architektur aus einer Dialektik von Peripherie und Zentrum entwickelt, wobei es offen bleibt, wo sich jeweils das Zentrum befindet. Jedenfalls tritt die Provinz als bewußte und positiv besetzte Gegenwelt auf, die von den Maßstäben des Zentrums nicht aus den Angeln gehoben werden kann. Regionalismus definiert sich an den Maßstäben des Zentrums als abgelöste und eigene Qualität. So ist Plecnik tatsächlich in einigen Aspekten dem Katalanen Antoni Gaudi vergleichbar, als Grenzgänger zwischen Kulturen, als architektonischer "Fundamentalist", aber auch als Handwerker, Techniker, Erfinder, als Identifikationsfigur einer nationalen Architektur, die im Bewußtsein der Region arbeitet, aber gegenüber der "Volks"- wie der "Hochkultur" gleich kritisch bleibt.

            Plecnik ist der Architekt der einander ausgrenzenden und überlagernden Kulturen Mitteleuropas, mit ihren Konflikten und Zeitverschiebungen, ihren Hochsprachen und Dialekten, ihrem Sprachbewußtsein und ihrer Sprachempfindlichkeit, ihrer Vielfalt der Orte und Regionen. Plecnik ist vielleicht aus einem Zentrum erklärbar, verständlich wird er aber vermutlich nur von der Peripherie her.

 

Architektur in Mitteleuropa, heute

Man kann vermutlich ungestraft behaupten, daß die architektonische Situation vor dem Ersten Weltkrieg durch eine deutliche Zweiteilung charakterisiert ist: während im deutschsprachigen Drittel Mitteleuropas auf dem Untergrund der regionalen Entwicklungen sich eine im eigenen Selbstverständnis fortschrittliche Moderne artikuliert, bis zu den internationalen Avantgarden, ist die Entwicklung in den sogenannten Kronländern akzentuiert durch die gleichzeitige Suche nach einer nationalen Identität in der neuen Architektur. Dieser Prozeß verschärft nicht nur die kritische Position gegenüber Wien, sondern intensiviert auch die Kontakte zu Berlin, Paris oder Moskau. Diese Situation trägt dazu bei (wenn man von den ökonomischen Voraussetzungen in der Tschechoslowakei, also im industrialisiertesten Land Mitteleuropas absieht), daß in den zwanziger und dreißiger Jahren etwa in Brünn und Prag mehr an international bedeutender Architektur entsteht als im bereits resignierenden Wien.

            Während man also in der Zwischenkriegszeit, auch was die Entwicklung in Ungarn betrifft, eventuell noch eine mitteleuropäische Szene konstruieren könnte, die sich an den auseinanderstrebenden Kräften darstellt, so ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr damit vergleichbar. Zwar hatte sich in den von Hitler besetzten Staaten die moderne Architektur als ein Relikt des kulturellen Widerstandes konserviert und es schwappte nicht die Welle der Blut- und Bodenarchitektur über sie hinweg, aber 1948 setzte das Programm des Sozialistischen Realismus neue Zeichen. Zwar hat der Stalinismus versucht, ein neues Verhältnis zu den nationalen Architekturen zu gewinnen (und es gab auch in den verschiedenen Ländern regionale oder nationale Varianten), aber ideologisch war die neue Architektur der Bruderstaaten doch "gleichgeschaltet". Wie immer man die Entwicklung bis heute sehen oder darstellen mag, wie immer die Interpretationen von Funktionalismus im Osten und im Westen ausgesehen haben, von einem auf Mitteleuropa begrenzbaren Phänomen oder gar einer beschreibbaren Charakteristik kann man bestimmt nicht sprechen.

            Es mag sein, daß heute im Zuge der postmodernen Diskussion und der kulturellen Emanzipation einiger Länder, verstärkt durch die sogenannte Regionalismusdiskussion, neue Ansätze sichtbar werden, die vage an historische Entwicklungen erinnern oder sie höchst subjektiv interpretieren, aber Mitteleuropa wird dabei sicher nicht zum Vorschein kommen.

            Natürlich könnte man etwa in der organisch-subjektiven Architektur eines Imre Makoveczs auch nationalromantische Spuren entdecken, und es ist vielleicht kein Zufall, daß seine Arbeit besonders in der ungarischen Tourismusarchitektur Widerhall findet, aber sind das wirklich Mosaiksteine eines "mitteleuropäischen Selbstverständnisses"? Ich glaube es nicht. Natürlich ist es möglich, alles was heute in den betroffenen Ländern (welchen?) passiert, auf ihren ehemaligen historischen Boden zu beziehen. Aber ich fürchte, man macht dann die Rechnung ohne die Zeit.

             Was Österreich betrifft, so könnte man die architektonische Entwicklung als eine Art von Mitteleuropäisierung bezeichnen. Angefangen von den Regionalisierungstendenzen innerhalb der Moderne in den dreißiger Jahren, verstärkt durch die Kulturpolitik der Besatzungsmächte in den Nachkriegsjahren, haben sich bei uns vitale regionale Zentren entwickelt, die mit Erfolg das Profil einer differenzierten Architekturlandschaft ausformen. Aber auch diese Entwicklungen sind Produkte einer internationalen Architekturdiskussion, Reaktionen auf unterschiedliche Bedingungen und sicher ohne den Aspekt einer betonten mitteleuropäischen Vielfalt entstanden.

            "Das ist es ja eben", antwortet der unverbesserliche Mitteleuropäer darauf, und man kann nur erwidern, daß regionales Bauen nur dann akzeptabel sein kann, wenn es im Bewußtsein der überregionalen Entwicklungen geschieht und diese positiv verarbeitet; alles andere ist Regionalismus, also Peripherie mit Komplexen behaftet, statt die Komplexität der Peripherie zu besitzen.

Kontakt

[1] Dieser 1986 entstandene Essay ist zuerst erschienen in: Friedrich Achleitner: Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite? Basel, Boston, Berlin 1997, S. 7-16. Dem Birkhäuser Verlag sei hier für die Abdruckerlaubnis herzlich gedankt.

[2] Als "Heimatstil" wurde in Österreich jener "Laubsägestil" bezeichnet, der sich (im Kontext des Späthistorismus) dekorativer bäuerlicher Motive bediente und der vorzüglich zur Einkleidung von städtischen Gebäudetypen auf dem Lande (Villen, Grandhotels etc.) verwendet wurde. Die Heimatschutzbewegung wandte sich gegen diesen "falschen" Heimatstil. Dieser Begriff war also eindeutig negativ besetzt. Das Durcheinander entsteht dadurch, weil heute vielfach die "Heimatschutzarchitektur" als "Heimatstil" bezeichnet wird. In der Schweiz wurde allerdings "Heimatstil" immer positiv oder zumindest wertneutral verwendet.

[3] Wenn auch der "Deutsche Heimatschutz" erst 1904 gegründet wurde, so ist, vor allem in Bayern, diese Bewegung viel älter. Vermutlich liegen die Anfänge bei Maximilian II. (1811-64), der gezielt auf der Suche nach einem bayrischen Nationalstil war. Diese Stildiskussion wurde schon in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts ausgelöst.


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