Martin
Krusche
Katowice. Mai 2004. Sonne.
So ist das auf den Reisen. Da sind an
größeren Orten naheliegende Straßen, die sich uns anbieten. Breite Wege. Gefällige
Routen. Aber ich denke auch an jene anderen Stellen in Europa, egal in welcher
Himmelsrichtung, Plätze, die man bestenfalls durch Zufall zu Gesicht bekommt. Wenn man
die Reservate aufgeräumter Hotels verläßt. Um sich in einer Stadt herumzutreiben.
Entgegen all den Warnungen der Leute aus der eigenen Heimat. Die niemals hier oder sonst
wo gewesen sind. Die ihr Wissen über die Welt aus Boulevardblättern beziehen. Die
allerhand Gefahren phantasieren. Ein merkwürdiges Geschäft. Dieses Beschwören von
Gefahren. Als Rechtfertigung dort zu bleiben wo man ist.
Nein, mein Gepäck ist nicht gestohlen
worden. Nein, ich wurde nicht bedrängt, nicht bedroht, nicht einmal schräg angesehen.
Nein, man hat sich nicht abgewandt, wenn ich etwa um den Weg gefragt habe. Nein, man hat
sich mir nicht ungebeten zugewandt. So war es hier in Katowice. So war es in der Fontanka
in Sankt Petersburg. So war es sonst wo.
Auf abgelegenen Gassen, vor verhängten
Fenstern, an brüchigen Gehsteigkanten, da habe ich an den eifrigen Doktor in Wien
gedacht. Wie es sein würde, wenn er sich mit seinem Wunsch durchgesetzt hätte. Mit
seiner Mühe, diesem Europa neuer Bündnisse auch eine neue Hymne zu schreiben. In
gewähltem Latein formuliert: Est Europa nunc unita / et unita maneat ...
Welche Ignoranz und Unempfindlichkeit, zu
trällern Europa ist nun vereint und vereint möge es bleiben ... Wo
würde man das erträglich finden, dieses Lied fortan als das eigene Lied verstehen zu
lernen und aus voller Lunge zu singen: Cives, floreat Europa, opus magnum vocat
vos. Damit hier wie dort, quer über den Kontinent die selben Worte zur selben
Musik sich den Kehlen entringen würden? Ach, was für ein schönes, vereintes Europa, in
dem alle mindestens, als Gemeinsames, ein wenig Latein erlernen möchten. Wie es der
Doktor aus Wien anbietet: Hymnus Europae / Ein kleiner Lateinkurs für jene, die
mit dem Lateinischen nicht oder nur wenig vertraut sind ...
Lernen wir doch die Sprache des Imperium
Romanum, also immerhin die Sprache eines Imperiums, das sich ein großes Stück der Welt
einverleibt hatte. Eines Imperiums, das sich auf eine Sklavengesellschaft gestützt hat
und das im vergangenen Jahrhundert einem Banditen aus Österreich und seinen Barbaren die
Inspiration für ein Tausendjähriges Reich war. Nein, ich denke, so wird es nicht kommen
können.
Europa, das finde ich nicht in den Versen
von Professoren und anderen Herren in gut geschnittenen Anzügen, mit gepflegten Bärten
und oder nacktem Kinn, mit reichlich Haaren auf dem Kopf oder doch eher spärlichem Besatz
... Europa, das finde ich nicht in solchen Studierzimmern.
Europa, das finde ich in Gdansk, wo
Arbeiter mit ihren Leibern und ihrem Leben eingestanden sind, um den Lauf der Dinge zu
ändern. Europa, das finde ich in Sarajevo, wo Moslems, Juden, Christen und Orthodoxe an
ihrer Gemeinschaft geblutet haben.
Europa, das finde ich in Sankt Peterburg,
wo ich am Stadtrand über einen Bunker stolpere, welcher an die mehrjährige Blockade
durch die Deutsche Wehrmacht erinnert, an das grausame Sterben, das der Hunger und der
Mangel an allem den Opfer aufgebürdet hatte. Deren Kindern und Enkeln man dort über den
Weg, manchmal in die Arme läuft.
Sind das die Menschen, denen wir nun
Latein beibringen wollen?
Da sollte uns nach den letzten 200 Jahren
ausgesuchter Grausamkeiten doch etwas besseres einfallen. Etwas das von der Praxis des
Kontrastes handelt. Nicht von der Nivellierung der Differenz. Denn die Erfahrung mit
Kontrasten, daran ist dieses Europa reich. Ich fand es in einigen Zeilen eines Buches, das
ich hier, in Katowice, gelesen hab, sehr treffend skizziert. Der serbische Autor Ivo
Andric beschrieb in Wesire und Konsuln solche Kontraste am Beispiel
eines Konsuls, der von Napoleon ins osmanisch regierte Bosnien geschickt wurde, dem ein
junger Beamter folgte:
So war der junge des Fossés nach Bosnien gekommen, das seine Versprechen und
Drohungen gleich bei der ersten Begegnung wahrmachte, ihn immer mehr mit der schneidenden,
kalten Atmosphäre armseligen Lebens umgab und ihn vor allem in seiner Stille und
Einsamkeit begrub, mit der er nunmehr so viele Nächte rang, wenn sich der Schlaf seiner
nicht erbarmte und von keiner Seite Hilfe kam.
Das handelt von den anderen Stellen
in Europa, die ich eingangs erwähnt habe, die freilich auch in den wohlhabenden
Ländern des Westens zu finden sind, die da wachsen, weil reiche Menschen sich selbst
bestätigen, daß ihr Reichtum der beste Beweis sei, wie tüchtig sie ihre Mittel erworben
hätten. Das nimmt besorgniserregend zu. Das lernt man auch in anderen Ländern von uns.
Die daraus resultierenden sozialen Folgen und Nachteile sind Anlaß, wieder in die alten
Waffenschränke des Nationalismus zu greifen.
Wir haben wenig Anlaß Hymnen zu singen.
Schon gar nicht in Latein, dem alten Code des weströmischen Reiches. Eva Ursprung
bemerkte dazu, da standen wir zu Füßen eines mächtigen Reiterstandbildes von Polens
Nationalheld Jozef Pilsudski: Na wenn schon eine Hymne, dann wenigstens eine in
Esperanto. Das versteht dann gar keiner. |