Transit. Zone.
Von Martin KruscheGraz, das ist südlich, ist Ost
und West in sich gebrochen, aufgefächert, untergeschoben. Graz, das ist ein
Deutungsgeflecht mit Gehalt ebenso wie mit blank geputzten Projektionsflächen, ein
summendes Ringen um etwas Eindeutigkeit im Selbstverständnis und ... ewiggestrig genauso
wie unrettbar der Zukunft ins Mahlwerk geworfen. Verwirrend? Für mich nicht. Ich bin
gebürtiger Grazer.
Das "Phantasma Balkan" hat uns tief geprägt. Ein
Flackern im 500 Jahre dauernden Spannungsbogen zwischen der Hohen Pforte in Istanbul und
dem Hof in Wien. Für Napoleon eine Festung, die geschleift werden mußte. Für Hitler
eine Stadt der Volkserhebung. Provinz und geistiges Zentrum. Mit der Bürde des
Wehrhaften. Die lange Zuständigkeit der steirischen Landeshauptmannschaft für das
"Confinium militare" übertrug dieser Stadt erhebliche Verantwortung für jene
"Militärgrenze", die das Habsburger Reich von jenem der Osmanen trennte. (Die
türkische Bezeichnung dafür lautete "Serhad".)
Bis in die Gegenwart wird die Steiermark von ihren
Regierungen als "Brücke und Bollwerk" gedeutet. Einst in völliger Randlage des
Reiches, dessen Schutz verschrieben, gelegentlich mit bis zu 80 Prozent des Landesbudgets
und jedem fünften Mann im wehrfähigen Alter zum Kriegsdienst verpflichtet, der
Verteidigung Innerösterreichs gewidmet.
Eine enorme Aufgabe, die große Offenheit förderte, in der
alle nur denkbaren und nutzbaren Mittel herangezogen wurden. Das bedeutete ständigen
Technologietransfer in die Steiermark bei laufendem Interesse an Innovationen.
Symbolträchtiger Technologieträger war hier vor allem das seit der Römerzeit
geschätzte "Norische Eisen", wodurch die Steiermark mit hochwertigen Produkten
schon früh Zugänge zum Weltmarkt fand.
Mit dem Jahr 1919 und der damaligen Grenzziehung,
überwiegend entlang einer slawisch-deutschen Sprachgrenze, begann Graz aus der
ursprünglichen Randlage ein neuer Bedeutungshorizont zu erwachsen. Das mörderische
Intermezzo des Dritten Reiches ging nahtlos in die Polaritäten des Kalten Krieges über.
Erst eine Schlüsselposition im Aufmarsch der Nazi-Armee Richtung Balken. Schließlich die
Verzeichnung von Waltendorf, Gratkorn und anderen Punkten im Raum Graz in den
"Manöverannahmen der ungarischen Armee für den Einsatz von taktischen Atomwaffen in
der Steiermark".
Als der Eiserne Vorhang im Ungarn von 1989 zu verfallen
begann, erhielt der Bedeutungswandel für die "Position Graz" wieder völlig
andere Akzente. Mit Österreichs Beitritt zur EU anno 1995, mit der Aufnahme etlicher
österreichischer Nachbarländer im Jahr 2004 muß man wohl die Rahmenbedingungen der
Stadt erneut als völlig verändert annehmen.
Die Funktion des Bollwerks ist nun ganz in die
Historiographie entrückt. Die Funktion der Brücke harrt zeitgemäßer Deutungen. Welche
Optionen sind da wohl zu entwerfen, aufzugreifen, wenn erst mal Gelegenheit war, ein wenig
hinter das "Phantasma Balkan" zu blicken? Denn die geschichtsträchtige Linie
Wien-Istanbul führt durch ein gewaltiges kulturelles Potential. Entlang dieser Linie
haben sich Menschen mehr als ein halbes Jahrtausend ausgetauscht. Graz war in diesem
Prozeß wechselweise Relaisstation, Generator, Zentrifuge ...
Quellen
[LINK]
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