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#3Die
Frage persönlicher Mobilität und Reisefreiheit war einst in den Händen der Herrschaft,
schließlich auch ein Sache der Tyrannis, die über Völker zu gebieten versuche. Das
Recht zur freien Bewegung und das dafür komfortable Automobil in privater, persönlicher
Verfügung, junge Phänomene. Annehmlichkeiten, die den Menschen keineswegs weltweit
selbstverständlich sind.
Reisen oder bloß von einer Stadt
zur nächsten zu kommen, das war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts -- abseits von
Flüssen oder Eisenbahnlinien -- eine höchst anstrengende und zeitraubende Angelegenheit.
Während nun in einigen Staaten Europas schon vor dem Zweiten Weltkrieg einige
Unternehmen angefangen hatten Autos zu bauen, die wenigstens für eine situierte
Mittelschicht erschwinglich wurden, kamen in unserem Lebensraum die bedeutendsten Impulse
dazu vom Faschismus.
In Italien war es der Fiat "Ballila",
von dem die Geschichte über den "Topolino" zu jenem Fiat 500 nuova führte, der
heute Kultstatus genießt und der mit dem aktuellen Fiat 500 höchst erfolgreich zitiert
wurde.
Der Fiat "Topolino" (Foto) entsprang
einer Anforderung an den Ingenieur Dante Giacosa, die etwa lautete: "Bauen wir
ein Automobil, das sich auch ein Arbeit leisten kann."
Das "Deutsche Reich", zu dem
Österreich eine Weile gehörte, hatte seinem Volk den von Ferdinand Porsche konstruierten
"KdF-Wagen" in Aussicht gestellt, der allerdings erst nach dem Krieg
als "Volkswagen" auf den Markt kam.
Ich fand in Emils Wunderkammer ein Büchlein, mit
dem der "KdF-Wagen" in den Tagen der Nazi beworben wurde. Warum ich
diese Dinge aufgreife? In jenen Tagen bis zum Zweiten Weltkrieg war die Eisenbahn eine
sehr demokratische Einrichtung, die den Menschen Mobilität anbot. Autos sind in der Regel
unermeßlich teuer und daher den Eliten vorbehalten gewesen.
Die Tyrannis versprach breiteren
Bevölkerungskreisen Bewegung und Automobile, doch "Massenbewegung" war dem
Geschäft der Menschenverachtung gewidmet, ist von verbrecherischen Systemen
instrumentalisiert worden. Nun mag erkennbar werden, wie Eisenbahnfahrten und Fußmärsche
im Gegensatz dazu gedeutet werden können; doch auch dieses Motiv bleibt zwiespältig,
denn Eisenbahnfahrten und Fußmärsche sind zugleich die Zutaten von Todeslagern.
Die Tyrannis zeigt sich zuweilen in ganz banalen
Gesten und Erscheinungsformen. Sehr bemerkenswert fand ich die Liste einer Hotelbelegung,
wie sie als großes Blatt mit schlichter Typographie auf Emils Billardtisch zu finden war.
Die Liste ist mit "Donnerstag,
22.September 1938" datiert, war also offenkundig ein Wegweiser auf dem Weg zum "Münchner
Abkommen", das am 30. September jenes Jahres zustande kam.
Hitler, Daladier, Neville Chamberlain, damit war
die damalige Tschechoslowakei filetiert. Auf der Liste ist ersichtlich, das man die Nazi
in "Dreizimmer-Leute", "Zweizimmer-Leute" und Einzelbelegungen
geordnet hatte. Himmler und Ribbentrop waren natürlich "Dreizimmer-Leute". Emil
merkte grinsend an, man habe vermutlich für diese Veranstaltung alle Zimmernummern im
Hotel umgestanzt, damit die drei angemessenen Zimmer für den Führer auch mit 1,2,3
durchnummeriert erschienen ...
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