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Erinnerung
Von Mirjana Selakov

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Nach dem Fall der Berliner Mauer, nach der Auflösung der Sowjetunion und dem damit verbundenen Ende des sozialistischen Systems in Osteuropa, kam es in ehemaligen sozialistischen Ländern zu einem auffälligen „Erwachen des Gedächtnisses“. Auch weiter betrachtet, durch den Sturz von Diktaturen in Lateinamerika oder durch das Ende der Apartheid in Südafrika, entwickelte sich eine fast globale „Bewegung des Gedächtnisses“.

Die Wirtschaftskrise im Westeuropa der 1970er und dann, in den 90er-Jahren, die Erhöhung des Ölpreises, das bedeutete für diese Länder das Ende des permanent beschleunigten Wachstums.

Die über dreißig Jahren intensiver Industrialisierung und Urbanisierung hinterlassen große Veränderungen in der Landschaften, auch in der Berufsbildern und Lebensweisen von Menschen. Ebenso in den Bräuchen und Traditionen. Wie sich der Zug des Fortschrittes begann langsamer zu bewegen, machte sich ein wieder gefundenes Gedächtnis auch in Westeuropa bemerkbar. Da denke ich in erster Linie an die großen Industrieländer: Frankreich, England und Deutschland.

Wie schaut die Situation in Österreich aus? Was hat uns die Geschwindigkeit und Beschleunigung des Fortfahrens gebracht? Oder besser gesagt: Was hat sie uns angerichtet?

Vor allem auf dem Lande kam es zu Verlusten der über Jahrhundert langen Stabilität der bäuerlichen Lebensweisen und ländlichen Lebensgrundlagen. Das „Ende der Agrarwelt“ wurde in Arbeiten von Historikern und Soziologen erkannt und beschrieben.

Mit dem Ende des Bauerntums kam es auch zum Ende des kollektiven Lebens (zugunsten individualisierterer Existenzen) und damit auch zu einem Ende des „Gedächtnisskollektivs“, das im Bauernleben tief verankert war. Das Ende des Kollektives heißt auch Verlust der gemeinsamen Interessen, Daraus folgt ein höherer Grad der Individualisierung.

Wenn wir die Europa anschauen, läßt sich das „Erwachen des Gedächtnisses“ als ein zeitliches und zugleich ein gesellschaftliches Phänomen deuten. Das zunehmende wirtschaftliche Wachstum des Abendlandes brachte eine „Beschleunigung der Geschichte“ mit sich, was wiederum die Veränderung des Verhältnisses zur Vergangenheit als Folge hatte. Die Vergangenheit erschien immer ferner und entfremdeter, die Zukunft immer näher und die Gegenwart gar nicht mehr merkbar. Die Wissenschaft spricht da von einer Unterbrechung der Linearität der Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgen nicht einander, was eine andere Organisation menschlichen Gedächtnisses zur Folge hat.

Die gesellschaftliche Ursache für das „Erwachen des Gedächtnisses“ macht sich in Osteuropa und den Balkanländer, also in unserer Nachbarschaft, stark bemerkbar.

Demokratisierungsprozesse der „kleinen“ Völker und Ethnien sowie die damit verbundene Suche nach der eigenen Identität tragen zu diesem Thema bei. Der Anspruch auf „die Wahrheit“ erscheint wie die Rache der Erniedrigten, der kleine Nationen, aller die auf „große Geschichte“ kein Recht gehabt hatten. Hier denke ich an die hunderte von Jahren der angeblichen kulturellen Überlegenheit des Westens dem Osten gegenüber.

Beide Aspekte – zeitliche und gesellschaftliche –, sind einige der Ursachen für die entstandene „Arbeit an den Erinnerungen“. Das scheint mir in der Auseinandersetzung mit der Thema „Leben/Kunst/Geschwindigkeit“ sehr wichtig. Wenn einer der berühmten Diskurse der Postmoderne vom „Ende der Geschichte“ spricht, dann ist heutzutage ein nach-postmoderner Diskurs über den „Beginn des Erinnerns“ im Gange.

Zu: Leben/Kunst/Geschwindigkeit©

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