log #484: wunderkammer Das Europa des 20. Jahrhunderts ist ein Terrain
endloser Tatorte. Neue Technologien und eine leistungsfähige Logistik trieben den
Bodycount in astronomische Höhen. Kein LKW und kein Güterwaggon blieb unschuldig; von
den Menschen, die sie bewegten, ganz zu schweigen.
So ist in meiner kleinen "Wunderkammer"
ein Stück Absperrband zu finden, wie es die Polizei zum Markieren von Ereignisorten
verwendet. Die "Vitrine des 20. Jahrhunderts" verweist damit auf
Taten, Tatorte und deren Vorbedingungen.
Was wir aus diesem 20. Jahrhundert verbindlich
wissen: jedem Massaker ist ein Krieg der Worte vorangegangen. Immer mußten
Menschen ideologisch gerüstet werden, um diese Taten zu setzen.
Wovon die Rede ist? Mit diskursiven, mit
propagandistischen Mitteln, mit Bildern und Behauptungen werden Mitmenschen zu Gegenmenschen
umgedeutet, schließlich propagandistisch aus der Menschengemeinschaft ausgeschlossen, als
Untermenschen, Ungeziefer, als Tiere markiert und so zum Abschlachten zurechtgestellt. Das
sind kulturelle Prozesse, Kommunikationsakte.
Solcher Geist weilt ungebrochen unter uns. Das symbolisiert
ein Packen Aufkleber, die ich an einem stillen Sonntag von Laternenmasten in Gleisdorf
abgezogen hab. Diese Botschaften zugunsten des Holocaust-Leugners Gerd Honsik [link] stehen für jenen Krieg der Worte, den wir mit dem
Nazi-Faschismus nicht hinter uns lassen konnten.
Diese brutale Komplexitätsreduktion, wie wir sie bei vaterländischen
Kräften bis heute finden, begnügt sich mit einer Selbstdefinition durch Feindmarkierung.
Davon erzählt ein spezielles Artefakt aus der Zeit. Sie finden in der Vitrine ein
Metallstück, ein sogenanntes Klischee, wie es damals in Druckereien Verwendung
fand.
Das Exponat mit der Empfehlung "Juden hinaus"
stammt aus den Hinterlassenschaften meiner Familie, die einige sehr tüchtige Nazi
aufzubieten hatte, denen Mitläufertum keineswegs hinreichend erschien.
Das sind zähe Burschen gewesen, deren Weltsicht
unerschütterbar schien, was etwa der slawischen Frau an meiner Seite den freundlichen
Satz einbrachte: "Na, ich bin ja schon froh, daß du keine Negerin bist."
Im Kontrast dazu ein Quentchen Schweizer Erde. Es
ist ja von erlesener Ironie, daß ausgerechnet ein Land, dessen volkswirtschaftliche
Hauptleistung sehr lange das Ausschicken von Kriegsknechten war, von Söldnern, die
manchmel unter einer Schlacht die Seite wechselten, wenn mehr Geld winkte, uns heute Neutralität
vorlebt und in eben dieser Neutralität ein staatlicher Komplize beim Ausplündern ganzer
Volkswirtschaften ist.
Es sind gerade vaterländische Kräfte mit ihren Wurzeln im
Faschismus, die uns dieses Land gerne als gutes Beispiel für Demokratie vorschwärmen.
Dieses Stück authentische Schweiz, Boden ohne Blut, hat also guten Grund, in meiner
Vitrine zu liegen.
-- [Die
Vitrine] [Wunderkammer] --
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