log #454: the long distance
howl Ich bin auf die Auseinandersetzung mit
Menschen angewiesen, die mir von völlig anderen Feldern als dem meinen mit ihren
Erfahrungen entgegenkommen. Ich brauche den Kontrast, um besser sehen zu können.
Ich vermute, daß jede Berufsgruppe dazu neigt, ihre Berufsbilder mit Legenden zu
überlagern, vorzugsweise mit hausgemachten Legenden. In meinem Fall ist das vielfach ein
verläßliches Kriterium, um Professionals von Möchtegerns zu unterscheiden.
Anders ausgedrückt: Wer es in der Befassung mit Kunst nicht gar so weit gebracht hat,
wird einen gelegentlich mit Klischees darüber vollquatschen. Wer die Befassung mit Kunst
ernst nimmt, wird sich eher mit Fragen der Kunst befassen.
Mit unserem heurigen Kunstsymposion klären
wir unseren Zwischenstand. Ein Kernbereich ist darin meine Auseinandersetzung mit den
Positionen von Selman Trtovac. Wir haben eine Markierung angebracht, als wir notierten:
Ich kann das auch. (Siehe dazu auch: "Pop: Die Schwelle"!)
Es liegt eine Uneindeutigkeit in diesem Statement. Wenn es unter aufstiegsfreudigen
Bildungsbürgern beuyselt, dann hören wir einmal mehr, Beuys habe
gesagt und gemeint, daß jeder Mensch ein Künstler sei. Weshalb sollte Beuys das gesagt
und gemeint haben?
Er präzisierte ja gelegentlich, daß nach
seiner Auffassung jeder Menschen ein Künstler sein KÖNNE. (Aber das ist eben eine Frage
der Intention und des Tuns, der Hingabe.) Damit sagte er mehr über die Condition
humana als über jene Menschen, die sich mir gerne als kunstsinnig aufdrängen,
obwohl ihnen das Thema merklich nachrangig erscheint. Beuys würde mir vermutlich
zustimmen: Man muß ja nicht!
Selman Trtovac (links) und Radenko
Milak
Soooo wichtig ist die Kunst auch wieder nicht. Es gibt
viele andere Wege, um sich mit der Welt und den Menschen auseinanderzusetzen. Ich genieße
genau das, weil es sehr anregend ist, völlig andere Zugänge zu offenen Fragen zu
erleben.
So hatte ich eben eine ruhige Stunde mit Thomas Ludwig, den ich kürzlich kennenlernte,
als er mit einem vorzüglich instand gesetzten Steyr-Puch 650 TR auf dem alten
Werksgelände die Kurve kratzte. In einem früheren Abschnitt seines Berufsleben war er
für das österreichische Tankstellennetz eines internationalen Ölkonzerns zuständig.
Heute ist er mit strategischen Aufgaben befaßt.
Mich interessieren bei Menschen wie ihm stets zwei Aspekte besonders: Dimension und
Komplexität. Wie läßt sich ein Lauf der Dinge bewegen? Wie ereignet sich Kommunikation
jenseits der Gruppengröße von drei, vier Leuten? Kann man eigentlich mit tausend
Menschen kommunizieren? Ereignet sich das tatsächlich? Oder erklären wir uns
Massenphänomene vorzugsweise mit Metaphern und Mythen?
Thomas Ludwig zur Arbeit in
komplexeren Strukturen:
"Du bräuchtest immer einen, der abfedert, was nur Ego ist."
Wo nun Kunstpraxis nicht als ein Geschäft
verstanden wird, das einer Unterhaltungsindustrie Güter liefert, sondern wenn wir uns
nach relevanten Inhalten und Rahmenbedingungen unserer Leben fragen, dann ist Kunstpraxis
eine von mehreren Optionen, um ästhetische Erfahrungen zu machen und Erkenntnis zu
erarbeiten.
Wer nun unter verschiedenen solcher Wege Hierarchien einziehen möchte, ruiniert das Feld.
Das ist einer der Gründe, warum ich unser heuriges Kunstsymposion als die Befassung mit
einem Running Code verstehe, zum dem stets auch ein "Rough
Consensus" gehört, und warum ich in meinem Langzeitprojekt The Long
Distance Howl [link]
nun einen Abschnitt markiert habe, der folgendem Motto gewidmet ist: Die Ehre
des Handwerks, das gewicht der Kunst, der Geist in der Maschine.
Thomas Ludwigs 650er: Die
"konkete Maschine"
teilt uns durch ihre Form ihre Funktion mit
Wer dieses Motto etwas ausleuchten möchte, wird schnell
erkennen können, daß ich hier Handwerk, Kunst und Ingenieurswesen
in eine Beziehung setze.
Wer unsere Arbeit schon etwas kennt, weiß ja
beispielsweise, daß unsere leitende Kuratorin Mirjana Peitler-Selakov nicht nur
Kunsthistorikerin ist (die übrigens jetzt gerade in Klausur hockt, um ihre Dissertation
fertigzuschreiben), sie ist auch Dipl. Ing. der Elektrotechnik und in der Chip-Entwicklung
tätig.
Nimmt man hinzu, daß ich nun seit Jahren meine Zeit auch mit einigen alten Meistern der
historischen Steyr-Daimler-Puch AG verbringe, wird das genannte Motto mit seinen
Praxisbezügen auf jeden Fall nachvollziehbar.
Kuratorin Mirjana Peitler-Selakov
mit Galerist Pierre Courtin in Sarajevo
Was darin aber an Klärungsbdarf liegt, ist eine Sache
unserer laufenden Arbeit. Die manifestiert sich gerade im genannten Kunstsymposion und in
einer neuen Arbeitsreihe unseres Bereiches Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft:
[KWW]
-- [Symposions-Übersicht]
[Generaldokumentation]
--
Post Scriptchen:
Die Formulierungen "Running Code" und "Rough Consensus" habe
ich aus der Netzkultur bezogen, wo man etwa in "The Tao of IETF: A
Novice's Guide to the Internet Engineering Task Force" darüber nachlesen kann:
[link]
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