log #406: die gefolgschaft des
ikarus Falls Sie, wie ich, in den
1950er-Jahren geboren wurden, haben Sie höchstwahrscheinlich Großeltern, die aus dem 19.
Jahrhundert stammen. Jetzt leben wir im 21. und blicken daher auf jenes gut überschaubare
Stück Geschichte zurück, in dem sich die Massenmotorisierung anbahnte, durchsetzte, um
uns heute vor einige recht radikale Fragen zu stellen.
"RADFAHRER ALS STÖRER DER
SONNTAGSRUHE"
ÖSTERREICHS WIENER ILLUSTRIERTE, HEFT 5, 1894
Mein Großvater Richard, dessen erster Vorname zu meinem
zweiten geworden ist, hat nie ein Automobil besessen. Ich habe ihn stets nur auf einem
Fahrrad gesehen. Richard stammte aus der Gegend um den Berg Grimming, war aus einem
ländlichen Milieu in die steirische Landeshauptstadt Graz gekommen.
Er und seine Cäcilia haben bis zu beider
Lebensende in einer Zimmer-Küche-Wohnung" gelebt. Die markante hölzerne
Kohlenkiste neben dem Waschbecken, die Nähmaschine und der sehr lange Weg auf die
Toilette sind mir bis heute in Erinnerung. So lebte jene neue Stadtbevölkerung, die dem
drückenden Mangel in der agrarischen Welt entkommen war, um im urbanen Raum ein
bescheideneres, aber dennoch ein vielfach komfortableres Auskommen zu finden.
BEFÄHIGUNGSZEUGNIS 1925 [DAS VOLLSTÄNDIGE
DOKUMENT]
Ganz anders war meine Großmutter Marianne ausgestattet.
Ihr Karl hatte in seinen besten Zeiten ein Weingut nahe dem slowenischen Maribor besessen.
Von ihnen ist ein Führerschein erhalten, der belegt, daß sie einen Ford Model T fahren
konnten.
Marianne war die Tochter des Fleischhauers Matthias Renner,
somit die Nichte, beziehungsweise Cousine der Renner-Buben". In dieser
Familie wurden also nicht bloß Autos und Motorräder gefahren, sondern es wurde auch in
die Lüfte gegangen.
Eines der beiden Luftschiffe dieser Renner-Buben",
von denen ich als Kind den Anatol noch kennengelernt hatte, war mit einem Puch-Motor
bestückt. Das alles ergab zu Zeiten meiner Großeltern sehr ungewöhnliche Positionen.
Man mußte bis Ende des Zweiten Weltkrieg eher zu den
wohlhabenden Leuten gehören, um ein Automobil besitzen zu können. Die meisten Autos auf
unseren Straßen waren damals nicht in individuellem Privatbesitz, sondern sind
Firmenwagen oder Behördenfahrzeuge gewesen.
Ich kam 1956 zur Welt, als sich das alles gerade
grundlegend zu ändern begann. Meine eigene Familiengeschichte hat einen durchgängigen
Verlauf wachsender Motorisierung, in dem von Mopeds und Rollern bis hin zum LKW alles
vorkommt. In den ersten Jahren meines Führerscheinbesitzes was ein Auto pro Kopf in der
Familie selbstverständlich und wurde in der Quote durch manche Freizeit-Marotten sogar
noch erhöht.
Erst im Rückblick, nach etlichen Jahrzehnten, wurde mir
klar, wie ungewöhnlich diese Ausstattung einer Kleinfamilie eigentlich gewesen ist. Wenn
man sich nun etwa die letzten 150 Jahre genauer ansieht, sozusagen eine
Hochdruckzone" moderner Mobilitätsgeschichte, staunt man über diese rasende
Entwicklung.
In einem so kompakten Zeitfenster ereignete sich ein
Bündel an Prozessen, durch die wir eine vollkommen neue Vorstellung von individueller
Mobilität gewonnen haben und durch welche sich das Antlitz der Welt radikal verändert
hat.
Die genannten 150 Jahre decken sich mit der Geschichte des
Unternehmers Johann Puch, der 1862 in der damaligen Untersteiermark Österreichs geboren
wurde, welche heute slowenisches Staatsgebiet ist.
Als Puch in Graz seinen Militärdienst ableistete, bekam
der erfahrene Handwerker wohl mit den damals populären Hochrädern" der
Offiziere zu tun. Teure Fahrzeuge, die aufwendige Wartung verlangten.
GRAZER TAGBLATT, 12.4.1903
Es war die Zeit, da Nähmaschinen und Schreibmaschinen
zunehmende Verbreitung fanden. Was sie an feinmechanischem Können und
Werkstattausrüstung verlangten, führte zu Verkaufsstellen mit angeschlossenen
Werkstätten, in denen alle drei Güter angeboten und gewartet wurden, Nähmaschinen,
Schreibmaschinen und Fahrräder.
Johann Puch bewährte sich einige Zeit in solchen Betrieben
und Fabriken, bis er es selbst zum Unternehmer brachte, zum Fabrikanten, dessen Fahrräder
und Motorräder internationales Renommee erlangten. Mit Automobilen begann er ähnlich
erfolgreich zu werden, wandte sich gerade der Luftfahrt zu, als sein Leben im 52. Jahr
endete.
[die gefolgschaft des ikarus]
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