log #391: maschine

Der Weg hatte in seinem Verhältnis von Weggabelungen zu Wegweisern etwas von einem sozialen Experiment. Ich saß hinter zwei gut gelaunten Männern in einem Wagen, der nicht mit einem Navigationssystem hochgerüstet ist. Momentan sind die Hagelnetze über dem Obst gespannt. Es ist diese Zeit, in der ein Nachmittag die Bauerrn um eine großen Teil ihres Ertrags bringen kann.

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Manchmal war dort die Landschaft kurz wie ein Text zu lesen, in dem verschwindende Worte stehen. Zum Beispiel: Lohndrusch.

Die Hitze des Tages erreicht nicht mehr jene Spitzen, an denen wir unlängst noch einen Juli erkennen wollten. Für den ersten August ein passables Wetter in einem Jahr, das mich durch seine Wendungen schon etwas müde gemacht hat. Aber aus welcher Position erzähle ich von Müdigkeit?

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Wir waren daran, eine Frau zu treffen, die auch leiblich ausdrückt, was hier kürzlich noch hieß: ausgeschunden. Als wir auf der Bank nebeneinander saßen, hörte ich sie sagen: "Was habe ich in meinem Leben gearbeitet und mich gefürchtet." Das meinte: Sorgen.

Die meisten Landwirtschaften dieser Regionen waren über Jahrhunderte Selbstversorgerwirtschaften. Es wurde nicht für den Markt produziert, sondern für den eigenen Bedarf. Was dennoch verkauft wurde, sollte etwas Geld zum Haus bringen, weil ja doch manches bezahlt werden mußte.

Das Obst ergab die Ausnahmen, wie auch der Hopfen in einigen Teilen der Oststeiermark. Sonderwirtschaft. Aber für die meisten Leute war das Leben vom Mangel geprägt und wiederkehrend von Not gekennzeichnet.

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Es läßt sich behaupten, das Leben sei eine Schinderei gewesen. Manche sagten mir: "Und wer sich nicht geschunden hat, hat nichts gegolten." Maria Gsellmann sagte: "Wer sich nicht geschunden hat, hatte nichts zu essen."

Die letzte Abzweigung zu diesem Anwesen führte uns in einer scharfen Kehre auf einen sehr schmalen Weg. In den letzten Jahrzehnten hatte alles offenbar etwas gedeihen können. Aber man sieht dem Ensemble noch an, was seine ursprüngliche Dimension gewesen ist. Eine sehr bescheidene Wirtschaft.

"Im Nebenwerwerb?" Fragte ich. "Nein, alles im Vollerwerb", antwortete Gsellmann. "Es hat hier ja sonst keine Arbeit gegeben." Sie ist die Schwiegertochter des Bauern Franz Gsellmann, dessen Emotionen ihn zu einem Werk anleiteten, für das man zu seiner Zeit beste Aussichten hatte, für verrückt erklärt zu werden.

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In einer Welt, die gewöhnlich alle Kraft und die meiste Tageszeit forderte, um nützliche Dinge zu tun, um das Notwendige zu schaffen, baute Franz Gsellmann eine Maschine, die nur eines produziert: Wahrnehmungserfahrungen.

Das ist es, wovon der Begriff Ästhetik handelt, den wir aus dem Griechischen bezogen haben. Aisthesis ist die Wahrnehmung. Sie ist das Gegenteil von An-Aisthesis, wozu wir heute Anästhesie sagen, Betäubung.

Wir haben keine angemessene Vorstellung mehr davon, was es bedeutet und was es an persönlichen Konsequenzen nach sich zieht, wenn einer unter den Keuschlern und Kleinhäuslern sich Tageszeit und Arbeitskraft, Geld und Gegenstände reserviert, um damit so ein Projekt zu realisieren; noch dazu ohne Theoriebildung, ohne ein Konzept, welches derlei Tun zu legitimieren sucht.

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