log #363:
fahrtenbuch, seite #21Leben auf dem Lande
Wie es bei den armen Leuten war, Teil 3
Wenn ein Mann von 70 Jahren mitten im Gespräch
plötzlich um Fassung ringt, weil ihm Schatten aus seiner Kindheit für Augenblicke
unerträglich scheinen, kommt man ins Grübeln. Wie gehen wir mit einander um? Was bewirkt
Gewalttätigkeit an Menschen? Gottfried Eicher läßt keinen Zweifel: Man wird das
nie mehr los. Man kann es nicht mehr gut machen. Die Demütigungen, die
Verletzungen. Der lebhafte Mann fragt sich heute noch: Warum werden heimatlose
Kinder ausgestoßen?
Die Mißhandlungen von damals sind nur ein
Teil der Verletzungen. Die Ungerechtigkeit tat ebenso weh. Und zuletzt: Daß mir
niemand geholfen hat. Kein Nachbar, kein Lehrer, kein Bürgermeister. Im Gegenteil.
Eichers Schilderungen legen den Schluß nahe, daß die armen Kinder, die ohne Eltern
waren, als Objekte mißbraucht wurden, an denen sich Erwachsene ungestraft abreagieren
durften. |
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Ist es nun überraschend, daß zur
Geringschätzung und zu den üblichen Prügeln auch sexueller Mißbrauch kam? Nein, das
Schema gilt heute als bekannt. Damals waren die Opfer von einer Mauer des Schweigens
umgeben, ihren Peinigern ohne jede Aussicht auf ein Entkommen ausgeliefert. Das Schweigen
hielt bei vielen über Jahrzehnte. Scham, Schuldgefühle und das Abwiegeln der Leute in
nächster Nähe. Nur keinen Skandal machen. Die Obrigkeit nicht gegen sich aufbringen.
Eicher sagt, im Dorf hätten genau drei Leute was zu sagen
gehabt, der Bürgermeister, der Lehrer und der Pfarrer. Außerdem haben für die
bessergestellten Bauern andere Regeln gegolten als für die ärmeren Leute. Dienstboten
waren weniger wert als das Vieh. Und es sei, so Eicher, eine harte, eine gewalttätige
Gesellschaft gewesen. Gute alte Zeit? Da lacht er nur bitter.
Die Frau war dem Mann gegenüber oft wehrlos,
sagt er. Auch zu den Tieren ist man sehr brutal gewesen. Eicher weiß, daß
andere weggeschaut haben. Warum haben die Nachbarn nichts gewußt? Sind ja nur fünf
Häuser gewesen. Er gibt selbst die Antwort: Weil sie die gleichen Schweine
waren.
Dazwischen betont er: Ich sage nur die Wahrheit. Das
kannst du ruhig schreiben. Das kann jeder nachprüfen. Warum hat ihn ein Bauer aus
dem Armenhaus geholt? Der hat selber keine Kinder gehabt und eine billige
Arbeitskraft gebraucht. Als er dann doch Frau und Kind hatte, wurde Eicher in die
Scheune ausquartiert. Weihnachten 1956 hat er gut in Erinnerung. Ich hab müssen
Birkenbesen binden. Und es war ihm so kalt, ich hab die nackten Füße in die
warme Kuhscheiße gesteckt, damit sie mir nicht erfrieren.
Die Tage davor hatte er drei Eier gestohlen und versteckt.
Dazu etwas Hafer- und Gerstenschrot. Wenns die Schweine fressen, werd ichs auch
vertragen. Das ganze mit Milch verrührt, sein Weihnachtsessen. Als er den
Einberufungsbefehl erhielt, hat ihn der Bauer ein letztes Mal blutig geschlagen. Aus
Ärger, die Arbeitskraft zu verlieren. Zum Militär, das hat für mich geheißen:
Sauberes Gewand, eine Waschgelegenheit und ein Klo, genug zum Essen und keine Schläge
mehr.
Doch mehr als diese Ungelegenheiten plagte ihn zu jener
Zeit eine andere Kränkung. Der Kaplan hat uns im Unterricht geschlagen und auch
danach. Außerdem waren da fünf Kinder, die hat er sich regelmäßig geholt.
Prügel und Oralverkehr. Das ging rund zwei Jahre so. Ich wollte mir mit zwölf
Jahren das erste Mal das Leben nehmen. Solche Momente seien später wieder gekommen.
Aber: Man hat gegen die Kirche kein Wort sagen dürfen.
Launiges Schicksal, der Kleriker, von dem Eicher und seine
Klassenkameraden mißbraucht worden sind, wurde nach St. Martin bei Graz versetzt. Aus der
Gegend stammt Rosi, die Frau, mit der Eicher nun über 40 Jahre verheiratet ist. Beim
Aufgebot kam es zur düsteren Begegnung. Ich hab ihm vier Namen genannt, ich selber
bin der fünfte gewesen. Meine Braut hat sich so geschämt.
Eicher kritisiert, wie in jüngster Vergangenheit mit
diesen Dingen von der Diözese umgegangen wird. Vom Bischof ist er nicht sehr angetan.
Es wurde nicht eingehalten, was zugesagt worden ist. Der Mann setzt energisch
nach: Und wenn der Papst hier vorkommen würde, dem tät ich auch sagen, wie das
gewesen ist. Er meint: Ich glaub, die haben nicht gedacht, daß so viele
zusammenkommen. Eicher betont, daß er Christ geblieben ist. Ich glaube an den
Schöpfer, aber nicht an sein Bodenpersonal.
Eicher hat das Schweigen satt. Wenn er und seinesgleichen
auch damals mit all dem allein gelassen worden sind, heute sollen die Menschen sich nicht
abwenden. Sie sollen zur Kenntnis nehmen, was geschehen ist und wozu Mitmenschen in der
Lage sind. Die Folgen der Verachtung, der Gewalttätigkeit und des Mißbrauchs sind
unauslöschlich: Jetzt bin ich 70 Jahre. Vergessen tu ich es nicht. Manchmal,
bei Medienberichten über solche Vergehen, komme ihm alles wieder hoch. Diese Wunden
heilen nicht. Wie man damit fertig wird? Ich danke Gott, daß ich meinen Weg
gefunden hab. Und das große Verständnis seiner Rosi habe dazu auch viel
beigetragen.
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