log #353:
fahrtenbuch, seite #19Leben auf dem Lande
Wie es bei den armen Leuten war, Teil 2
Wer noch weiß, wie elend das Leben auf dem Lande
für die Habenichtse sein konnte, staunt natürlich über die romantischen Bilder aus der
angeblich guten alten Zeit". Dabei weiß Gottfried Eicher durchaus von
Herzenswärme und Zuneigung zu erzählen, die er in seiner Kindheit kurz erlebt hat. Aber
wenn bei einem Haus nicht mehr alle Leute durchgefüttert werden konnten, wurden Kinder
üblicherweise weggegeben. Sie kamen dann als billige Arbeitskräfte zu fremden Bauern.
Arm sein, das hieß ganz konkret rechtlos und
schutzlos sein. Eicher wirkt heute noch in manchen Momenten eines Gespräches von diesen
Erfahrungen derart erschüttert, daß er stockt. Was schmerzt so sehr? Einerseits
Ungerechtigeit und Brutalität, der das Kind Gottfried ausgesetzt war. |
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Andrerseits
die sexuellen Übergriffe eines Geistlichen. Diese Wunde scheint bis heute nicht
geschlossen zu sein. Es war üblich, daß Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren
in die Arbeitswelt eingeführt wurden. Wasser und Feuerholz holen, Ernterückstände
einsammeln, für die kleineren Tiere sorgen. Was gab es zu essen? Kartoffeln,
Maisschrot und Milchsuppe."
Frühstück? Nein. Die armen Kinder
gingen hungrig und barfuß in die Schule. Das Schlimmste war für Gottfried der
leere, knurrende Magen". Er trank viel Wasser, um durchzuhalten, denn die Ausspeisung
in der Gleisdorfer Schule erfolgte mittags: Sterz, Eintopf und Gemüsesuppe. Immer
das Gleiche." Manchmal als Nachspeise ein Apfel. Zur Erinnerung: Gottfried Eicher
wurde 1941 geboren. Das war also die Zeit des Kriegsendes.
Ohne Schuhe, abgerissenes Gewand, ein alter
Leinensack statt einer Schultasche, dazu der Spott besser gestellter Kinder und, besonders
verletztend, die herablassende Strenge der Klosterfrauen. Gottfried sagt, er konnte die
Scham kaum ertragen. Das war eine der Wahrheiten jener bäuerlich-kleinstädtischen
Gesellschaft in Gleisdorf. Nächstenliebe ist die Ausnahme gewesen, Mitleidlosigkeit eine
häufige Erfahrung. Und das in einer Situation, wo Mangel zum Alltag gehörte, zu jenem
Alltag, der manchmal von purer Not durchbrochen wurde. Nicht in fernen Zeiten",
sondern kürzlich, vor bloß wenigen Jahrzehnten.
Die sexuellen Übergriffe eines Kaplans mußte
der Bub rund zwei Jahre ertragen. Eine tiefe Kränkung und Qual, die ihm heute noch
praktisch täglich durch den Kopf geht. Diese nachhaltige Erniedrigung empfindet er als
verschärft, weil ihm niemand geholfen hat und weil darüber nicht geredet werden durfte.
Zur Ungerechtigkeit, die Gottfried auf manche Arten kennenlernte, kam also diese alles
verhüllende Heuchelei, bei der Personen in höherem sozialen Rang nicht einmal daran
dachten, die Werte, welche man anderen predigte, für seich selbst als verbindlich
anzusehen.
Die Kindheitsgeschichte des Gottfried Eicher
handelt von einer Gesellschaft, in der ein Recht des Stärkeren vor allem im Unrecht der
Schwächeren erstaunlichen Bestand hatte. Auf traditionelle Autoritäten wie
Bürgermeister, Pfarrer, Lehrer und Arzt durfte ein uneheliches Dienstbotenkind da nicht
rechnen. Die Schande" der Erwachsenen wurde oft völlig bedenkenlos den Kindern
aufgebürdet.
[Ludersdorf/Wilfersdorf]
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[Tage der agrarischen Welt 2012]
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