log #339: talking
communitiesNennen
Sie Ihre Gründe!
(Ein Auftakt in Novi Sad)
Nur wenn ich reise, verstehe ich mich selbst. Ich
habe tausend Fragen an die Fremden. Zur Zeit fahre ich gerne nach Süden. Die Länder des
vormaligen Jugoslawien interessieren mich sehr. Früher hätte ich nicht damit gerechnet,
daß ich nation building" je aus der Nähe sehen könnte. Welche
Aufgabenstellungen suchen und welche Fragen finden Menschen, deren Land erst seit einigen
Jahren Nation ist?
Die Praxis der talking
communities" läßt mich Menschen suchen, welche als kritische Intelligenz
verstanden werden dürfen. Wenn ich solche Menschen zu einem Gespräch in ein Schaufenster
bitte, dann bedeutet das, ich vermeide es, eine Situation zu reproduzieren, die als
billige Variante bürgerlicher Salons gelten will. Ich hatte vor Novi Sad schon
verschiedene Möglichkeiten erprobt, kleine Diskurs-Räume so zu besetzen, daß sie
mindestens öffentlich sichtbar und zugänglich sind, teilweise auch mitten im
öffentlichen Raum liegen.
Der reale Dialog erweist sich als erhabenes
Ereignis im Gegensatz zur Flut von Geschwätzigkeit, die täglich über Massenmedien
freigesetzt wird. Die konkrete soziale Begegnung ist eine klare Position gegen diese Flut.
Es geht nicht um die Illusion, derlei Flut aufhalten zu können; dazu müßten wir alle
unsere Stromnetze abschalten.
Vladimir Kopicl (Foto:
Nikola Dzafo)
Mit talking communities" rücken
wir den realen Dialog wieder in die Mitte kultureller Vorhaben. Keine große Inszenierung,
kein aufwendiges Equipment, sondern handelnde Personen und das Prinzip Nennen
Sie Ihre Gründe!".
Der Blick auf Serbien war mir lange durch eine
westliche Berichterstattung verstellt, in der sich offenbar ein Großteil der Medienleute
damit begnügt hat, von einander stets wiederkehrende Klischees abzuschreiben. Deshalb
wußten wir auch schnell, wer Die Serben" angeblich sind und wie sie angeblich
sind und was sie angeblich bewegt.
Also bin ich seit Jahren in eine endlose Kette
von Gesprächen verwoben, denn all das ist ja nicht bloß Der Süden", sondern
auch Mein Europa". Darin sind wir unseren alten Nachbarn" etwas
fremd worden. Ein Entfremdungsprozeß, der offenbar wenigstens seit 1914 nicht abklingen
will. Wie eingangs erwähnt: Ich habe tausend Fragen an die Fremden.
Martin Krusche & Ivan
Pravdic (Foto: Nikola Dzafo)
Vizebürgermeister Vladimir Kopicl sagte an einer
Stelle unseres Gesprächs ironisch: Meine Generation lebte zwei Utopien.
Sozialismus und Rock & Roll." In den 1990ern haben alle erleben müssen,
daß die Welt ein unsicherer Raum sei. Apropos Raum! Wir saßen ebenerdig im Schaufenster
eines Hauses, wo einige Stockwerke höher der Schriftsteller Aleksandar Tisma gewohnt
hatte.
Künstler Bojan Kripokavic sieht sich nicht als
Teil einer bestimmten Generation, dieses Wir-Gefühl" scheint ihm zu fehlen. Er
sagt aber grundsätzlich: Ich bin kein Pessimist. Wir müssen einander finden.
Auch in den neuen Nachbarländern."
Der junge Ivan Pravdic, von Kindheit an Teil des
Theaterlebens, erstaunte mich mit der Aussage: Ich glaube nicht, daß der Krieg in
dieser Gesellschaft was geändert hat." Journalistin Jovanka Zlatkovic erinnerte sich
auf jeden Fall an das Einbrechen demokratischer Strukturen: Ich konnte die
Veränderungen nicht akzeptieren", sagte sie über ihr Metier. Es gibt
keine freien Medien in Serbien." Es ist freilich ein europaweiter Trend, sich
von Journalismus, der diese Bezeichnung verdient, zu verabschieden.
Jovanka Zlatkovic
Igor Buric, mit diesem Beruf ebenfalls vertraut,
berief sich auf eine minimalistische Grundausstattung": Schau genau
hin! Es geht darum, auf sehr verschiedene Weise zu sagen was es ist." Zum
Geschäft mit den Klischees meinte er: Wenn dich wer falsch versteht oder auch
unterschätzt, willst du ja nicht unbedingt dagegen anschreien."
Es geht also unter anderem um Fragen der
Definitionsmacht und es geht darum, wie sich Deutungseliten formieren, welchen Rang sie in
einer Gesellschaft gewinnen, wie die Zugänge geregelt sind und wer von einem
öffentlichen Deutungsgeschäft" ausgeschlossen bleibt.
Philosoph Dragan Prole kommentierte solche
Zusammenhänge mit: Die Macht ist klug um an der Macht zu bleiben."
Ich vermute, wir sind gut beraten, diese Themen und Diskurs aufrecht zu erhalten, uns
selbst darin zu üben, wie man das praktisch tut, auch wie man eine Praxis des
Kontrastes" pflegt. Dieses Europa hat sicher zur Genüge geklärt, daß
Wahrheit" nicht zutage tritt, indem man einfach alle Widersprüche eliminiert.
[die novi sad-session] [talking communities]
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