log #313: the track, virtuosen der täuschung

Kollektive Aktionen: Reisen aus der Stadt 1976 – 2010
Ereignis – Dokumentation – Installation
Von Sabine Hänsgen

Die seit 1976 von den „Kollektiven Aktionen" organisierten „Reisen aus der Stadt" bestehen in der gemeinsamen Fahrt einer Gruppe von Teilnehmern aus der Metropole Moskau in einen „unbesetzten" Naturraum, der die Möglichkeit zur Realisierung alternativer Formen der ästhetischen Erfahrung und des kollektiven Handelns eröffnet. Meistens ist es ein schneebedecktes, von Bäumen begrenztes Feld (am Stadtrand, im Park, im Wald), das zu einer Bühne für minimale Handlungen wird, die Wahrnehmungsmuster und Kategorien unterhalb der konventionalisierten Sprach- und Bilderwelten thematisieren: Anwesenheit/Abwesenheit, Nähe/Ferne, Klang/Stille, rhythmische Folge, Pause…

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Das weiße Feld, das in der Tradition von Kazimir Malevics Suprematismus, Martin Heideggers „Lichtung" und der buddhistische Shunyata-Konzeption zu verstehen ist, erscheint als Demonstrationsfeld für die Akteure und als Raum der Wahrnehmung und Reflexion für die Teilnehmer. Bei den Reisen handelt es sich um Experimente, die der Erforschung des eigenen Bewusstseins, der Selbstbeobachtung im Zustand der Erwartung eines Ereignisses dienen.

Zwischen dem leeren Zentrum und den Rändern der Wahrnehmung werden in der ästhetischen Versuchsanordnung der „Kollektiven Aktionen" eine Reihe weiterer Felder, Zonen und Streifen unterschieden, die miteinander in Beziehung zu setzen sind: Das eigentliche Ereignis spielt sich nicht auf dem empirischen Feld ab, sondern im Bewusstsein der Teilnehmer. Die Einführung minimaler Handlungselemente zielt auf die Ausdehnung der Erwartung, die im Verlauf der Aktion allerdings jeglicher konkreter Inhalte entleert wird. Durch verschiedene Tricks und Manöver – etwa die „Ablenkung des Blicks" oder die „Erwartung ohne Erfüllung" – werden in der „leeren Handlung" vermeintliche Ziele und Inhalte der Handlungen immer wieder annulliert und eine am illusionistischen Spektakel orientierte Erwartungshaltung der Teilnehmer enttäuscht.

Dies kennzeichnet auch eine programmatische Serie von Losungsaktionen der „Kollektiven Aktionen". Im Jahr 1977 wurde von der Gruppe ein Losungstransparent in der Natur aufgehängt, das die Aufschrift trug: „Ich beklage mich über nichts, und mir gefällt alles, ungeachtet dessen, dass ich noch nie hier war und nichts über diese Gegend weiß."

Ein Jahr später folgte die nächste Losung: „Seltsam, warum habe ich mich selbst belogen, dass ich niemals hier war und nichts über diese Gegend weiß, – denn eigentlich ist es hier so wie überall, nur dass man das hier noch deutlicher spürt und noch tiefer nicht versteht." Die Beschriftung der Losungstransparente mit eigenen lyrischen Texten in der Art von zen-buddhistischen Koan-Sprüchen stellt auch eine Auseinandersetzung mit den Ästhetisierungsstrategien der ideologischen Kultur dar, die auf die Vortäuschung einer allgemeinen Harmonie ausgerichtet sind, in der Wahrheit und Lüge, Fakt und Fiktion ununterscheidbar werden.

Die „Kollektiven Aktionen" erschöpfen sich dabei nicht in der Wahrnehmung einer Situation auf dem Feld, die Rätselhaftigkeit der Handlungen stimuliert vielmehr eine Fülle von kommentierenden Texten. In den Blick gerät so die Grenze zwischen Sprache und außersprachlicher Realität, zwischen Text und Nicht-Text, und die situative „Erlebnis"-Geste kommt einem Impuls in einer unendlichen interpretativen Spirale gleich, in der sich Situation und Dokumentation wechselseitig auseinander hervorbringen. Bei den „Kollektiven Aktionen" werden zunächst textuelle Paradigmen (Instruktionen, Regeln, Planstrukturen) in reale Handlungen überführt, deren Dokumentation wiederum Text- und Begriffsräume entstehen lässt, die zum Anlass neuer Aktionen werden.

In über dreißig Jahren wurden von den „Kollektiven Aktionen" bis jetzt 124 Performances realisiert. Bei der letzten vorgestellten Aktion „Dekoration-2010" handelt es sich um die Transformation einer geplanten Losungsaktion: Statt eines Losungstransparents wurde in der Natur ein dekoratives „goldglänzendes" Objekt installiert, das nach dem Ende der UdSSR auf die Faszination für Glamour und die Zurschaustellung von Reichtum und Macht als neuer Ideologie in der Putin-Ära verweist.

Erst über die Dokumentation bzw. Faktografie werden die „Kollektiven Aktionen" auch für Betrachter, die selbst nicht an den Performances teilgenommen haben, zugänglich. Die Installation ermöglicht es den Ausstellungsbesuchern, sich auf eine „sekundäre" Reise durch verschiedene Schichten der Dokumentation zu begeben, die aus Beschreibungstexten, Erzählungen, theoretischen Kommentaren, Diskussionen, Zeichnungen, Fotografien, Videos und einer Website besteht. Auf diese Weise werden sie nicht nur zu Teilnehmern im Prozess einer Rekonstruktion der Aktionsereignisse, potentiell können sie die in der Installation gewonnenen Erfahrungen auch selbst für die Generierung neuer Handlungsperspektiven nutzen. Der Impuls zur Öffnung neuer Perspektiven ist insbesondere dadurch gegeben, dass die Installation nicht im traditionellen Kunstraum stattfindet, sondern in einem Ingenieurbüro am Rande von Gleisdorf, wohin in Analogie zu den „Kollektiven Aktionen" eine Reise aus der Stadt führt.

Kuratiert von Sabine Hänsgen (D) und Mirjana Peitler (A/SRB)
Projektleitung: Martin Krusche (A)

Eine Kooperation des
"kultur.at: verein für medienarbeit" mit dem Festival "steirischer herbst"
in weiterer Kooperation mit der Stadt Gleisdorf und dem Verein "kunst ost"
sowie dem "Institut für Kunst im öffentlichen Raum"

[virtuosen der täuschung]


coreresethome
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