next code: flow / page #6

Zu "next code: flow"
Von Mirjana Selakov

Jeder Mensch hat ein Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Aus diesem Grund schafft er seine individuelle Identitätskonstruktion. Jede Identität bildet eine selbstreflexive Relation zwischen der inneren und der äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar. Sie soll einerseits das unverwechselbar Individuelle, andrerseits das sozial Akzeptable darstellbar machen. […] [1] So ist jede Identität ein soziales Konstrukt, das auch eine kulturell bestimmte Dimension hat.

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In einschlägiger Theorie ist seit längerer Zeit eine Konzept von dynamischer Identität dominant. So wird die Identität nicht als eine fest verfügbare Größe, sondern als höchst variables Resultat von Prozessen und deren Interpretationen beschrieben. Nach diesem Konzept, verfügt das Individuum ständig frei über sich und damit über seine geistigen Funktionen. Mit einer solcherart „fließenden“ Identität hafte ich nicht an meinen Gedanken und Gefühlen.

Bei zu festen, unveränderbaren Ich-Konstrukten, oder bei zu festen Konstrukten der Wirklichkeit, kann es zu Störungen der Identität oder der gesamten Wirklichkeit mit ihren Akteuren kommen. Solche Störungen können Gewalt hervorbringen oder Zugänge verwehren. Einem verhafteten „Ich“ gelingt keine aktive Kommunikation, es läßt sich auf keine Lernprozesse ein. Beobachten und Wahrnehmen bleiben durch solche Konstrukte aus. Was nichts anderes heißt, als sich auf das bloße „funktionieren“ zu reduzieren. Aber zum Glück, hat das Ich eines denkenden Wesens die Möglichkeit, sich zu entscheiden und sich von Fremdsteuerung und voller Kontrolle zu befreien.

Wenn das menschliches Tun mit jemandem ganz eins wird, sind solche Momente mit Leichtigkeit und Einklang zu beschreiben. Das Erlebnis, im Kreativen zu sein, das sich nur durch einen Prozess verwirklicht, in welchen der Geist hineingezogen ist, kennt kein Zeitgefühl. Im „Flow-Zustand“ folgt Handlung auf Handlung nach einer inneren Logik, welche kein bewusstes Eingreifen seitens des Handelnden zu erfordern scheint. Er erlebt den Prozess als ein einheitliches "Fließen" von einem Augenblick zum nächsten, wobei er Meister seines Handelns ist und kaum eine Trennung zwischen sich und der Umwelt, zwischen Stimulus und Reaktion, auch zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verspürt." [2]

Mihalyi Csikszentmihalyi, ein Verhaltenswissenschaftler an der University of Chicago, meint, dass beim „Flow“ die Menschen am Gipfel ihrer Leistungsfähigkeit stünden. So kann es zum Flow in jedem Lebensbereich kommen – bei jeder Tätigkeit. Voraussetzung ist (nach Csikszentmihalyi) lediglich, dass die individuellen Fähigkeiten den Erfordernissen des Augenblicks vollkommen entsprechen und damit jedes bewusste Reflektieren des eigenen Tuns aufhört.

Die Aufmerksamkeit des Menschen ist ganz auf die anstehende Aufgabe gerichtet. Die Zeit wird weniger „bewusst“ erlebt, bis sie keine Rolle mehr spielt. Es gibt nur noch den zeitlosen Augenblick.

Bei Walter Kratners Installation mit den Tischtennis-Bällen erscheint der Zustand des „Flowing“ als Neuanordnungsprozess, bei den „Protozoae“ von Gertraud und Georg Enzinger als handwerkliche Fähigkeit, flüssige Identitätsformen und aktives Umschalten zu ermöglichen.

Wenn Martin Krusche sagt: „Das bin nicht ich“, wird ein interessantes Phänomen, das beim „Flow-Erlebnis“ vorkommt, sichtbar: Der Zustand der Selbstvergessenheit, die Ich-Losigkeit und ein damit verbundener Zustand des Aufhebens der subjektiven Grenzen, des Sich-Eins-Fühlens mit der Umgebung.

Der „Flow-Zustand“ ist mit der Wirkung von meditativen Praktiken vergleichbar. Wie ein Zustand der erhöhten Wachsamkeit und ein intensives Begreifen, ein Nichtdenken, innere Leere – bis hin zum Selbstverschwinden.

Die Station „next code: flow“ erzählt von der Kunst, die Möglichkeiten zu denken. Vom Staunen, Wundern, Erfahren und Deuten. Wenn man die Kunst bzw. die Künste im ostasiatischen Sinne auffasst, sind sie alles, was von Bedeutung ist, den Charakter eines Menschen zu entwickeln, sein Selbst einer Vollendung nahe zu bringen, handwerkliche und geistige Fähigkeiten gleichermaßen zu formen und dadurch den Menschen zur Reife gelangen zu lassen…

Die Kunst zu sein, im Widerspruch und Risiko, das sind Themen, die beim Betrachten der Werke dieser Ausstellung erkennbar werden. Sie erzählen von der Kunst des Haltes im Haltlosen, von der Kunst des Weich- und Hartseins, des Denkens und Weiterdenkens… Sind das nicht die wichtigsten Voraussetzungen für eine sinnvolle Kommunikation?

[1] In: Lexikon der Psychologie, Heidelberg, Spektrum -- Akademischer Verlag GmbH, 2002
[2] Ebnd
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