Über den Schmerz
Von Martin Krusche
Leben. Und daß es Sinn macht. Steht das außer Diskussion? Ich hoffe es. Das wäre ein
kleinster gemeinsamer Nenner, von dem man bei aller Verschiedenheit der Menschen
ausgehen darf. Wenn man nach der Grundbedingung menschlichen Daseins fragt. Ganz
egal wie nah oder ferne sich jemand von dem aufhält, was man sich unter Gesundheit
vorstellen mag.
Die Annahme was ein "würdiges Leben" sei, was ein "lebenswürdiger
Zustand" sei, wird meist mit dem Grad und der Verläßlichkeit von Schmerzfreiheit
verknüpft. Schmerzfreiheit im Sinne eines Wohlbefindens, das in einer langfristigen
Balance bleibt.
Wer aus solchen Ideen heraus Schmerzen kennen lernt, die einen überwältigen, die
einem die Sinne rauben, verliert sehr leicht alles, was davor als sicherer Boden vertraut
war. Für Momente, für länger, manche für immer.
Leben. Und daß es Sinn macht. Sinn ist ausschließlich in der Lebendigkeit und ihren
Bedingungen geborgen. Nicht im Schmerz. Der dafür bloß "Kontrastmittel" ist.
In einem Fließgleichgewicht materieller und immaterieller Kräftespiele. Für die mein
Leib eine unverzichtbare Basis ist. Leibliche Anwesenheit! An diesen Leib knüpft der
Geist an, die Seele hat einen Ort, das Ich eine Inkarnation. Dieses Ich ist nichts, das
auf eine bestimmte Art dingfest gemacht wäre. Es ist Ausdruck einer Kontinuität solcher
Kräftespiele. Und dessen, daß wir irgendwie in der Lage sind, uns darin selbst zu
erkennen.
Das behaupte ich aus einer Erfahrung und einer Erinnerung heraus. Als für Stunden,
Tage, was weiß ich, ein Grauen über mich hereingebrochen war, welches diese Balance mit
einer Wucht zerschlagen hat, von der ich mir davor noch keine Vorstellung gemacht hatte.
Ich erinnere mich an peinigende Angst, unerträgliche Schmerzen und einiges mehr, was mir
nicht faßbar erscheint. In dem Bangen darum, diese Balance, meine Leiblichkeit, die
Schmerzfreiheit und die Freiheit vom Schrecken wieder zu erhalten. Kurz: mein Leben
zurückzubekommen. Das was ich bis dahin für mein Leben hielt.
Es soll mir niemand mit leichtfertigem Gerede über Schmerz, Würde und Dasein kommen,
denn ich habe in diesen Fragen eine gewisse Dünkelhaftigkeit. Wenn mir jemand zu
großspurig erscheint, frage ich gerne: Wissen Sie eigentlich, womit Sie es hier zu tun
haben? Um nachzusetzen: Woher wissen Sie das?
Ich bin in diesem Punkt so schnippisch, weil ich dem Stand der Dinge in unserer Kultur
nicht traue. Anders ausgedrückt: Was ich an kulturellen Zusammenhängen der
Schmerzerfahrungen vorfinde, erweckt mein Mißtrauen. Das abendländische Europa hat eine
ebenso zynische wie obszöne Schmerzverherrlichung kultiviert, deren Historie weit über
ein Jahrtausend hinausreicht.
Ich bin in dieser Sache sehr streitbar, weil kaum ein praktischer Zusammenhang der
Machtausübung so radikale Seiten hat wie jene "Definitionshoheit", von der
herab festgelegt wird, welches Maß an Schmerz jemandem (unter welchen Bedingungen) als
zumutbar gilt. Im Rückblick sehen wir einerseits die Schmerzverliebtheit die Richtung
Heiligkeit gedeutet wird. Andrerseits Varianten die sich über tiefe Menschenverachtung
ihren Opfern mitteilen ...
Man braucht sehr gute Gründe, um Schmerz aktiv zu suchen. Ich ahne, daß es welche
geben kann. Aber gleich einem entsicherten Revolver ist das nichts, was man leichtfertig
unter die Leute bringen darf. Gerade wer beruflich mit dem Schmerzerlebnis anderer
Menschen zu tun hat, sollte besonderen Anforderungen der Rechenschaft unterworfen sein.
Über Schmerz zu reden, der uns erträglich ist, dessen Dimension und Ende uns absehbar
erscheinen, erschöpft sich bald. Es nützt gewiß, damit einige Erfahrungen zu sammeln.
Um sich selbst und anderen nicht jederzeit und leichtfertig auf die Nerven zu fallen. Alle
Kulturen haben ihre Konventionen, was als lästige "Wehleidigkeit" verstanden
und abtgetan wird. Aber wie sieht es mit dem anderen Extrem aus? Auf welche
Übereinkünfte dürfen sich Menschen berufen, die kurz- oder langfristig
außergewöhnlichen Schmerzen ausgesetzt sind?
Wie wir bei "Drogen" eine Vorstellung haben, was angemessener Gebrauch und
was Mißbrauch sei, müßte das auch in der Schmerzerfahrung kulturell verstanden und
beschrieben werden: Was ist ein kluger Umgang und was Mißbrauch?
Mich interessiert aus eigener Betroffenheit besonders jene Dimension der
Schmerzerfahrung, die einen in der vertrauten Welt an einen anderen Platz rückt. Also
ver-rückt. Mich interessieren die Konsequenzen von Vorfällen, die an Positionen
heranführen, hinter die man nicht mehr zurück gehen kann.
Aber wie soll man, noch dazu in angemessener Kürze, etwas fassen, das sich auf
tausenderlei Arten zutragen kann, das in seinen Konsequenzen noch mehr Varianten kennt?
Ich habe einen Begriff gewählt, der es mir erlaubt, mich mit anderen Menschen über die
Folgen jenes Schreckens zu verständigen, der einen dort erschüttert, wo Worte nichts
gelten. Die Überwältigung. Denn egal was geschehen ist, wie es geschehen ist und an wem
es geschehen ist, wenn man in diese Zone geworfen wurde, wo vorherige Vorstellungen ebenso
versagen wie eigene oder fremde Kraft, um das Geschehen abzuwenden, die Peinigung, die
Zerschlagung, das was einen auszulöschen droht, wenn man das überlebt, wo in einem jede
Faser geflüstert hat: "Du stirbst jetzt", dann hat sich die Überwältigung
vollzogen. Vielleicht in einem Vorfall von wenigen Augenblicken oder einigen Minuten.
Vielleicht in einem Vorfall, der sich Jahre nahm. Völlig egal!
Das ist der gemeinsame Nenner, in dem man sich treffen kann. Wo etwas fleht:
"Laßt mich damit nicht allein!" Denn es war schon die Unerbittlichkeit der
Überwältigung eine so quälende Art der Einsamkeit, daß auch Ahnungslose erraten
könnten: "Nicht noch einmal!" wird zum dringendsten Wunsch. Wunsch? Anspruch!
Ich bin kein Ding. Ich darf und muß fordern: "Nicht noch einmal!"
Diesen Anspruch muß ich äußern können. Äußern dürfen! Und wenn ich ihn gerade
nicht äußern kann, aus welchen Gründen auch immer, hätten andere anzunehmen, hätten
sie davon auszugehen: "Würde er jetzt sprechen können, wäre seine Forderung: Nicht
noch einmal!" Wer solchem Anspruch ins Wort fällt, verletzt die Würde des Menschen.
Wer jemanden bedrängt, diesen Anspruch aufzugeben oder abzuschwächen, verletzt die
Würde des Menschen. Das halte ich für ein Fundament dessen, was man sich unter einer
Kultur des Umgangs mit Schmerzen vorstellen könnte. Ich finde keinen anderen
Ausgangspunkt akzeptzabel.
Denn in der Überwältigung ist jeder außerhalb Stehende auf eine Art erhaben und
sollte sich dieser "Vormacht" bewußt sein. Man kann von dort
"draußen" nicht zu Überwältigten hingehen, sondern muß überlegen, was man
beizutragen vermag, ihren Rückweg in eine Konsens-Realität zu erleichtern. Denn das
trennt vor allem die radikalen Schmerzopfer von den Schmerzfreien. Man bewohnt keine
gemeinsame Realität.
Mein Weg durch die Überwältigung hat, bildlich gesprochen, in einem Aufenthalt auf
einem fremden, kalten, feindseligen Planeten gegipfelt. Der Rückweg von dort ist bis
heute nicht abgeschlossen. (Ich bin nun bald eineinhalb Jahrzehnte unterwegs.)
Es bleibt diese Trennlinie, über die von beiden Seiten her so viel herauszufinden ist.
Das Ereignis, wodurch diese Trennlinie entsteht, ist diese Überwältigung. Als etwas
Unerträgliches, das sich nicht verhindern ließ. Hier wirken zwei Attacken ineinander.
Das Unerträgliche. Und das Unausweichliche. Beides teilt sich dem betroffenen Menschen
mit, greift nach ihm, transformiert ihn. Ob der Geist dabei noch mitredet oder sich in
Schweigen hüllt, ganz egal, das Fleisch weiß. Da unsere materiellen und immateriellen
Instanzen so eng verwoben sind, in ständiger Wechselwirkung, bleibt es einerlei, über
welchen Kanal die Botschaft von der Auslöschung zuerst zu einem durchdringt. Denn das ist
nun mal die zentrale Botschaft jeder Überwältigung: Auslöschung. Überlebt man mit
dieser erhaltenen Nachricht, ist man vorerst allem entrissen, was je Sicherheit
versprochen hat.
Was? Was geschieht durch die Überwältigung? Was sind ihre Konsequenzen? Was bedeutet
es, wenn in körperliche und seelische Ganzheit eine Schneise geschlagen wird? Es
vollzieht sich eine Transformation. Der eine Entfremdung folgt.
Die erste Entfremdung liegt darin, daß man nie mehr sein wird, wer man davor gewesen
ist. Die Radikalität einer Überwältigung durchdringt Betroffene vollkommen. Ihre erste
Qual ist, daß sich die Überwältigung durch nichts abwenden ließ. Und durch niemanden.
Die zweite Entfremdung ist der Riß zwischen jenen Menschen, die auf solche Art
transformiert wurden, und jenen, die das nicht kennen. Er tut sich besonders zu denen hin
auf, die einem nahe und wichtig sind. Man verliert die alten Bindungen. Wie man in ihren
Herzen war ist man nicht mehr. Die Angehörigen ahnen das Geschehen und wehren es meist
ab.
Die meisten unter uns tendieren dazu, sich nach einer "Normalität" zu
sehnen, die meint, daß man sich Bedingungen wünscht, unter denen man sein Leben
bewältigt. Manche von uns werden dem entrissen. Verlieren diese günstigen Bedingungen.
Schmerz ist die leibliche Begleitmusik solchen Unglücks.
Normalität. Das ist ein kulturelles Gut. Wandlungen unterzogen. Auch verhandelbar.
Normalität. Das ist bloß eine Annahme darüber, was und wie unser Leben sei. Es steht
allerdings fest: Das Leben ist auf beiden Seiten der hier angedeuteten Trennlinie.
Erstmals
erschienen
als Einleitung von:
Monika Specht-Tomann und
Andreas Sandner-Kiesling
"Schmerz"
Patmos Verlag |
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