next code: input #21

Eröffnungsrede steirischer herbst 2007
Veronica Kaup-Hasler

Als ich vor einem Jahr meinen ersten steirischen herbst eröffnet habe, ist etwas passiert, was zum Albtraum einer Festivalintendantin gehört. Ich habe in der Nacht nach der Eröffnung aufgrund einer Erkältung die Stimme verloren. Und das zwang mich in den darauffolgenden Tagen zu krächzen und dann einfach den Mund zu halten.
Trotz aller Verärgerung war das auf eine besondere Art ein heilsamer Moment, denn in der Tat ist eine Eröffnung eines Festivals der Zeitpunkt, an dem sich die an der Konzeption und Planung beteiligten Kuratoren und Dramaturgen zurücknehmen. Der Raum gehört ab heute den Künstlern und allen, die an der Realisation mitarbeiten und vor allem Ihnen: dem Publikum.

input22.jpg (26095 Byte)

Und so hat der steirische herbst 2007 seinen Anfang mit einem künstlerischen Ereignis begonnen. Die eben erlebte herausfordernde Geräusch- und Klanginstallation von Staalplaat Soundsystem ist zugleich auch die Eröffnungsproduktion des ORF-eigenen Festivals für Neue Musik, dem musikprotokoll, das heuer – wie der herbst auch – sein 40jähriges Bestehen feiert.

Vierzig Jahre, das ist für ein interdisziplinäres Festival zeitgenössischer Kunst beachtlich und alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Der steirische herbst hat es über all die Jahre geschafft, sich immer wieder neu zu positionieren und zu erfinden. Er hat Schwerpunkte gesetzt und Impulse aus der Kunst aufgenommen und verstärkt.
Außerordentlich ist auch, dass der herbst trotz und durch die Herausforderung, vor die er sein Publikum stellt, ein wichtiger Bestandteil kultureller Identifikation geworden ist. Sie findet ihr Echo in unzähligen Geschichten, Anekdoten um Skandale, um befremdliche und begeisternde Ereignisse aus allen Bereichen der Kunst.

Wir wollen dieses Jubiläum zum Anlass für einige allgemeinere Überlegungen nehmen: So fragen einige der gezeigten Arbeiten danach, welchen Zugang wir noch zu früheren avantgardistischen Positionen finden. Die norwegischen Baktruppen etwa eignen sich sehr eigenwillig eine Choreographie von Merce Cunningham an und Mathilde Monnier konfrontiert ihre Choreographie mit Musik von György Ligeti. Ligeti wurde übrigens beim allerersten musikprotokoll vor vierzig Jahren aufgeführt.
Andere Projekte wiederum folgen, den Spuren, die der herbst selbst in den Köpfen hinterlassen hat – so wie die Audio-Tour von plan b durch das Gedächtnis und die Straßen von Graz. „Reading Back And Forth“ -- so heißt eine spezielle herbst-Ausstellung im Stadtmuseum. Sie untersucht das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit, das die Politiken des Festivals bis heute geprägt hat.

Ein anderer wichtiger Impuls für den diesjährigen steirischen herbst war die Auseinandersetzung mit dem Begriff NAHE GENUG.
NAHE GENUG – beschreibt einen performativen Zustand Es geht um die Bewegung zueinander und voneinander weg, um die verschiedenen Möglichkeiten von Nähe und Ferne. Es dreht sich auch um das Aushandeln von Symmetrie und Asymmetrie in Beziehungen, das die Verhältnisse erst lebendig hält.
NAHE GENUG meint die Kunst des richtigen Abstands in Naheverhältnissen. Sie gilt sowohl für Liebe als auch für Arbeitsverhältnisse, für ästhetische Erfahrungen als auch für die Politik.

Amos Oz hat das Hingezogen-Sein und das Sich-Entziehen mit dem Verhalten von Igeln in Sibirien verglichen: Sie rücken in der Kälte aneinander, um nicht zu frieren. Dann stechen sie sich und rücken wieder auseinander und fangen wieder an zu frieren. Zusammen und auseinander. Immer wieder. So einfach ist das mit Beziehungen. Und so kompliziert. Es geht in allem um die gut gewählte Distanz, die, wie Dirk Baecker es im Magazin des steirischen herbst beschreibt „Nähe nicht mit Verschmelzung und Ferne nicht mit Abwesenheit“ verwechselt.

NAHE GENUG: das ist ein Sehnsuchtsort, wenn er entfernt ist – und ein Zuviel, wenn er erreicht ist. So ist es in der Liebe, in Freundschaften, familiären Strukturen und anderen konkreten sozialen Gefügen des Alltags.
So ist es auch auf dem etwas weiter gefassten Feld der Politik. Wer Abkommen, Gesetze oder gar Verfassungen macht, befindet sich in permanenten Statusverhandlungen. Dieser Status wird im Spannungsfeld von Nähe und Distanz verhandelt, indem Übereinstimmungen und Differenzen, Rechte und Pflichten, Grenzziehungen und Grenzöffnungen diskutiert werden.
Wie eng ist Europa tatsächlich aneinander gerückt?
Welchen Status soll die Türkei im Verhältnis zur jetzigen Europäischen Union erhalten?
Wie nah ist Afrika? Vom spanischen Festland trennen uns nur 14 Kilometer. Doch auf beiden Seiten der Straße von Gibraltar werden fast täglich ertrunkene Flüchtlinge an den Strand gespült.

Und so ist – um ein aktuelles Beispiel aus Österreich zu nennen – auch bei uns eine aufgeheizte und undifferenzierte Diskussion zum Thema Islam und Integration im Gange.
Ich frage mich: Inwieweit ist dies nicht auch Ergebnis eines falschen Identitätsbewusstseins und einer fehlender Unterscheidungsfähigkeit, wie wir Nähe und Ferne zu anderen Kulturen bestimmen? Sind wir uns der eigenen Werte bereits so unsicher geworden, dass uns die gelebten Werte der anderen bedrohen?

[...]

Textauszug! Der Volltext ist HIER als RTF-Datei downloadbar.


texte | core | home
39•07