the long distance howl / ncv / seite
#37
Mein Kara Tepe-Moment
Alles hat Konsequenzen. Nichts ist
egal. Nein, ich beginne hier keine Buddhismus-Exegese. Wir sehen
uns bloß kurz um. Da, wo wir stehen. Die Welt ist in Unruhe. Es
gibt Übereinkünfte, durch die wir die Gemeinschaft stärken
können. Es gibt Reglements, denen wir widersprechen müssen. Wir?
Dieses Wir meint ganz unterschiedliche Menschen. Manche
davon sind in einer Initiative miteinander verbunden. Andere
reagieren auf Zustimmung zu einem Thema. Ihr Wir entsteht aus
Konsens; und sei es bloß für ein paar Stunden. An jenem Samstag,
dem 13.2.2021, lautete ein Statement auf dem Gleisdorfer
Hauptlatz: „Wir wollen helfen dürfen“.
Gleisdorf, Kirchriegel
Das bezieht sich auf Flüchtlinge in
Griechenland, die seit Monaten, seit Jahren, in einem Elend
belassen werden, weil eine politische Doktrin behauptet, daß es
der EU schaden würde, wenn man Betroffene aus diesem Elend von
Moria und Kara Tepe abholen wollte. Deshalb müssen sie dort
bleiben.
Daher blockieren geltende Gesetze engagierte
Bürgerinnen und Bürger, die zu helfen bereit sind. In der
Oststeiermark stehen derzeit fünf Wohnungen zur Verfügung, in
denen Flüchtlinge aus Kara Tepe, die eine Aussicht auf
Bleiberecht haben, unterkommen könnten.
Giovanni Prietl,
der in Gleisdorf amtierende Pfarrer, erzählte, er habe bei der
Kirche einen Zettel gefunden, mit dem er aufgefordert wurde, von
dieser Veranstaltung zu lassen, denn es gebe „in Österreich
genug zu tun“.
Pädagoge Franz Wolfmayr
Diese Zettel trägt zweierlei Makel.
Erstens ist die Aufforderung obszön, zumal hierzulande nicht nur
jedem Menschen Glaubensfreiheit zugesichert ist, es muß auch
jedem Menschen frei stehen, einem beliebigen Mitmenschen aus
dessen Not zu helfen. (Prietl betonte, Gottesliebe und
Menschenliebe seien untrennbar.)
Der zweite Makel liegt
im Verzicht auf eine Beachtung Europas als unserem primären
Bezugssystem. Europa, das bloß ein kleines Gärtlein am Rande des
eurasischen Riesen ist, in dem Österreich eine bescheidene Rolle
spielt.
Wer Österreich (egal in welcher Frage) gegen
Europa ausspielt, hat die Gegenwart nicht verstanden und die
Zukunft schon verjuxt. Das wirtschaftliche Gedeihen und der
soziale Friede in Europa können nicht in einem einzelnen Land
oder von einem einzelnen Staat geregelt werden. Die Staaten sind
in wechselseitigen Beziehungen und Verpflichtungen aneinander
gekettet.
Wer diese Anmaßung vertritt, Österreich separat
zu stellen, ist in solcher Zumutung uns allen gegenüber durch
eine Konvention geschützt, die besagt, die Würde des Menschen
sei unteilbar. Ich verstehe, daß jemand rational davon
überfordert ist, diese Übereinkunft als universell zu verstehen.
Das kapiert noch nicht jeder.
Pfarrer Giovanni Prietl
Darum sei betont: mindestens wer sich gerade auf europäischem
Boden befindet, muß dieser Erklärung unterstellt und in der
Wahrung seiner Würde gesichert sein. Eine Ausnahme davon ist
nicht möglich.
Unteilbar! Das heißt auch: in diesem Punkt
ist es ganz unerheblich, ob sich jemand rechtskonform oder
rechtswidrig in Europa aufhält. Wer das in Frage stellen möchte,
muß seine Gründe nennen und sich der Debatte dieser Gründe
stellen.
Wem? Na, uns zum Beispiel. Menschen wie dem
Pädagogen Franz Wolfmayr, dem Unternehmer Erwin Stubenschrott,
dem Theologen Fery Berger, der Buchhändlerin Helga Plautz, dem
Historiker Siegbert Rosenberger, dem Unternehmer Josef Zotter,
dem schon erwähnten Pfarrer Giovanni Prietl und anderen, von
denen ich noch erzählen werde.
Das bedeutet ferner, hier
exponiert sich gerade ein soziale, kulturelle und
wirtschaftliche Kompetenz, also eine politisch relevante Kraft,
die man nicht mit irgendeinem Gezänk vom Tisch wischen kann.
Einwände? Okay! In einer pluralistischen Gesellschaft ist
Dissens das Normale und sein Fehlen wäre verdächtig. Also reden
wir darüber, was derzeit der Fall ist und was sich daran ändern
muß, warum es sich ändern muß!
-- [Kara Tepe] -- |